Nachruf:Um unterwegs zu sein

Albert Speer junior, einer der einflussreichsten Stadtplaner der Welt, ist gestorben.

Von Gerhard Matzig

Die Orte und Plätze, die Wege und Straßen, die Häuser und Viertel, vor allem aber die Menschen darin, also die Städte - ob in Form von Megacitys oder auch als Dörfer: Das war seine Welt. Hier war er souverän. Die Orte waren Freunde. Die Worte aber waren, früher jedenfalls, seine Feinde. Ihnen war er ausgeliefert. Albert Speer hat gestottert.

Und so fing er, geboren im Juli 1934 in Berlin als das älteste von sechs Kindern des gleichnamigen NS-Rüstungsministers und Architekten Albert Speer (und auch schon der Großvater, ebenfalls ein Albert, war Architekt - wie auch der Urgroßvater), so fing er bald an, das Reich der Sprache zu meiden und die Sphäre der Dinge zu suchen. Er brach die Schule ab zu jener Zeit, da sein Vater dem Hitler-Regime als Chefarchitekt am Obersalzberg in einem Idyll des Grauens und der heranziehenden faschistischen Apokalyptik diente.

Die Welt als Fluchtpunkt. Um dem väterlichen Fluch zu entgehen

Vom Berg der Ungeheuer bis zur Dorfschule in Berchtesgaden und zurück war Speer täglich zwei Stunden unterwegs. Genug Zeit, um Vokale zu üben. Das A, E oder O: Feindesland. Wobei er die Frage, woher das Stottern kam, nie beantworten konnte. "Eines ist sicher", sagte er später im SZ-Interview, "als ich die Tagebuchnotizen meines Vaters, der im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zu 20 Jahren Haft in Spandau verurteilt wurde, aus dem Gefängnis schmuggeln musste, wurde das Stottern nicht besser." Er war zwölf Jahre alt.

Die Frage, ob er seinen Vater verehrt oder verabscheut habe, beantwortete er dann so: "Er war ein Verbrecher. Mitschuldig am menschenverachtenden Wahnsinn der Nazis. Aber trotzdem mein Vater." Nach dem Schulabbruch machte der "Schulversager" (Speer senior über Speer junior) erst einmal eine Schreinerlehre. Sein Gesellenstück war eine Musikkommode, "selbst entworfen", wie er nicht ohne Stolz erzählte, "mit Birnbaumfurnier und eingelegten Nussbaumadern".

1955 holte er dann über den mühevollen Umweg einer Abendschule das Abitur in Nürnberg nach. "Ich war ein lausiger Schüler, das Abitur erhielt ich gnadenhalber. Vielleicht wollten die mich auch einfach los sein." Und noch immer war ihm das Stottern im Weg, die Sprache. So wendete er sich abermals statt den Worten lieber den Orten zu. Ende der Fünfzigerjahre, Speer war jetzt 24 Jahre alt und mitten im Architekturstudium an der Technischen Hochschule in München, fuhr er mit seiner Lambretta von Bayern bis nach Ankara in die Türkei und zurück. Fünftausend Kilometer auf einem Motorroller. Warum? "Um unterwegs zu sein." Und um weg zu sein.

Albert Speer entdeckte damals die Welt für sich - auch als Fluchtpunkt, um dem väterlichen Fluch zu entfliehen. "Ich habe das halbe Leben oder mehr darangegeben, Distanz zwischen uns zu schaffen. Ich musste meine Herkunft überwinden." So fing er an, die Welt zu bereisen und zu umarmen, während der Vater Germania und Teutonia am liebsten ummauert hätte. So wurde er, nach dem Diplom 1960, Stadtplaner, während der Vater Architekt war. So fing er an, den Menschen Gehör zu schenken, während der Vater eher der Macht der Steine vertraute. Und so entdeckte er auch, wie großartig die Demokratie in der Baukunst sein kann - während der Vater die Diktatur in titanische Formen goss.

Albert Speer bewältigte seine Herkunft. Diese sorgte noch Jahrzehnte nach seinen enormen beruflichen und (als Professor für Stadt- und Regionalplanung an der Universität Kaiserslautern seit 1972) auch akademischen Erfolgen dafür, dass Reporter immer wieder darüber schrieben, wie seltsam es sei, einem der weltweit bekanntesten Urbanisten und Stadtplaner die Hand zu schütteln. Jene Hand, die auch die Hand Hitlers geschüttelt hatte. Speer hatte viel abzuschütteln. Er musste Distanz schaffen. Etwas überwinden. Und endlich auch die gottverdammten Vokale besiegen.

Das gelang zum Teil, indem Speer sich erst zum Studentenvertreter wählen ließ. Um später über seine zunehmende Reiseleidenschaft und stadtplanerischen Beobachtungen in aller Welt Vorträge in den deutschen Amerikahäusern zu halten. Auf Englisch. Man kann sich Albert Speer als Mann vorstellen, der als Stotterer Vorträge hält - in einer Sprache, die er damals kaum beherrschte. Ein mutiger Mann.

"In Probleme", sagte er später, "muss man sich so richtig reinknien, man muss sich geradezu reinsetzen, sich aussetzen, das Problem immer größer und größer und noch größer werden lassen. Nicht ausweichen! Bis die Probleme gelöst sind."

Architekt Albert Speer junior gestorben; Albert Speer junior gestorben

Albert Speer wird oft als "Stararchitekt" bezeichnet. Er war alles andere als das, ein Meister des Miteinanders.

(Foto: Arne Dedert/dpa)

Das ist auch seine Maxime als Stadtplaner und der eigentliche Grund für seinen Erfolg. Er verband die Orte und - genau! - die Worte zu einer Theorie der Stadt-Teilhabe. Schon Aristoteles berechnete das Ideal der Stadt aus der Reichweite der menschlichen Stimme und aus dem Zentrum der "Agora", dem Marktplatz der Kommunikation. In genau diesem Sinn wurde aus Speer, dem Stotterer, ein begnadeter Kommunikator städtischen Lebens. Sein Charme sowie seine Wissbegierde, dazu eine geradezu abenteuerlich gelebte Offenheit den Fremden und dem Fremden gegenüber wie auch der Heimat und der Identität, waren dabei hilfreich. "Partizipation", heute fast schon ein Modewort im Reich der Stadtplanung, hat Speer schon gelebt, als viele Architekten noch darüber rätselten, wie man das buchstabiert.

Zur Teilhabe und daraus gemeinschaftlich entwickelten Stadtleitbildern gehören noch weitere Ideen von der Stadt der Zukunft, die belegen, wie seherisch, avantgardistisch und vitalisierend Albert Speer einen ganzen Berufsstand nach Jahrzehnten der formegozentrischen Reißbrettplanungen neu erfunden hat. Die Dimension der Zeit ist eine davon. "Man muss Städten Zeit und Raum geben. Das sind Möglichkeitsformen." Speer war kein Freund übereilter Hoppla-hier-bau-ich-Maßnahmen. Er predigte Behutsamkeit. Kein radikales Planen, sondern das tastende Gestalten. Etwas also, was eher von den Menschen als von den Ideen ausgeht. Deshalb gehört auch die "nachhaltig" geplante Stadt zu seinen Verdiensten. In seinem Buch über die "intelligente Stadt" formuliert er das Ineinander von Städtebau und Ökologie als unabdingbares Kriterium in einer Ära der weltweit zunehmenden Verstädterung.

In dieser Ära ist es die Stadtplanung, die zu den epochalen Schlüsseldisziplinen gehört. Sie bewahrt Identitäten und verbindet Kulturen. Sie entscheidet über die Qualität der Lebens- und Möglichkeitsräume von Milliarden Menschen. Speer war einer ihrer wichtigsten Protagonisten. Er fehlt.

Was bleibt, ist das riesenhafte Werk. Es reicht vom Innenstadtkonzept in Ludwigshafen bis zum Bau des FC Bayern Campus. Also von 1964, dem Gründungsjahr des heute global tätigen, mehr als 200 Mitarbeiter umfassenden Büros AS + P, Albert Speer und Partner, bis in die Gegenwart des Jahres 2017. Dazwischen hat Albert Speer West-Tripolitanien in Libyen umgeplant. Das war noch in den Sechzigerjahren. Wenn heute Planungskultur "made in Germany" ein Exportschlager ist, so hat das mit Speers Weltneugierde zu tun.

Am See Distanzen schaffen, indem man sie überwindet

Zu nennen wären aber auch Stadtsanierungen in Lübeck oder Speyer, ein Masterplan für Nepal oder Köln, Planungen für Riad, ein Entwicklungskonzept für das Museumsufer in Frankfurt am Main, die Planungen für die "International Automobile City" in Shanghai oder der Neubau des Victoria-Turmes in Mannheim. Das Büro hat mit der Realisierung der Allianz-Arena in München zu tun, aber auch mit der umstrittenen WM-Vergabe nach Katar, es befasst sich mit Alexandria, aber auch mit Heidelberg. Und immer wieder mit Frankfurt, dem Sitz von AS + P. Deren Patron war dennoch fast immer unterwegs und immer noch dabei, Distanz zu schaffen, seltsamerweise vor allem deshalb, um Distanzen zu überwinden.

An den Folgen eines Sturzes in seiner Frankfurter Wohnung ist Albert Speer nun im Alter von 83 Jahren gestorben. Man wird deshalb an den Riegsee fahren, nahe Murnau, wo sich Albert Speer von seinem ersten Honorar vor Jahrzehnten ein kleines Ferienhaus erbaut hat. Es sieht fast japanisch aus. Der Vater wollte es lange nicht betreten. Dort wird man über den See schauen, auf dem Albert Speer so gern ruderte. Und dort wird man dann nachdenken über Orte des Glücks und Worte der Trauer. Die Orte bleiben.

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