Nachruf:Talent zur Freundschaft

Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen in ihrer Wohnung in Berlin; Silvia Bovenschen

Silvia Bovenschen in ihrer Wohnung in Berlin.

(Foto: Christian Thiel/imago)

Silvia Bovenschen war Erzählerin und Essayistin mit dem Talent zum Essay und zur Freundschaft. Ironisch und unsentimental. Ihr Erfolgsbuch: "Älterwerden".

Von Lothar Müller

Als sie im Jahr 2013 in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen wurde, erzählt Silvia Bovenschen in ihrer Selbstvorstellung von einem Schreibprojekt, an das sie sich im Jahr 1956 gemachte hatte. Aus dem Roman, in dem dreizehn Kinder und neun Hunde vorkommen sollten - "ausnahmslos problematische Charaktere" -, wurde nichts. An seine Stelle trat ein kleines Heft, in das die Zehnjährige Zitate, Kommentare, aufgeschnappte Sätze Erwachsener, Flüche und Wörter eintrug, die das Kind liebenswert oder komisch fand: "Düsenjäger, Keuchhusten, Aberglauben, Brechdurchfall, Wolkenkratzer, Schüttelfrost, Atemnot."

Es lohnt, ihre Essays zu lesen in Zeiten, da der "Genderdiskurs" allgegenwärtig ist

Aus dem gescheiterten Romanprojekt ging Jahrzehnte später die Erzählerin, aus dem kleinen Heft die Essayistin Silvia Bovenschen hervor. An der Wörterliste des Kindes fällt die Häufung von Einträgen aus dem Reich der Krankheiten auf. Bei den Kinderkrankheiten bleibt es nicht. Silvia Bovenschen, geboren 1946 in Oberbayern, aufgewachsen in bürgerlichen Verhältnissen in München, Hannover und Frankfurt am Main, war eine junge Literaturwissenschaftlerin, als sie die Diagnose erhielt, an Multipler Sklerose erkrankt zu sein.

Sie hatte bei Theodor W. Adorno studiert und machte sich rasch einen Namen , mit ihrer Dissertation "Die imaginierte Weiblichkeit" (1979), mit ihrer Studie "Aus der Zeit der Verzweiflung" (1985) über den Ursprung und das Fortleben der Hexenbilder, mit dem Band "Die Listen der Mode", den sie 1986 herausgab. Die Krankheit begünstigte die Lesezeit, verhinderte aber die Festanstellung an einer Universität.

Es lohnt sich, in Zeiten, in denen der "Genderdiskurs" allgegenwärtig ist, ihre Essays zu lesen über die Attacke von Alice Schwarzer auf die "Big Nudes" von Helmut Newton, über eine Umfrage von 1929 zum Thema "Die Frau von morgen", ihre abwägende Hommage an Simone de Beauvoir aus den Achtzigerjahren mit der Warnung, bei den Plädoyers für das Weibliche "in die alten biologistischen Mystifikationen von der besseren Natur der Frauen zurückzufallen". Sie hatte über die Mode nachgedacht, war aber vielleicht nicht nur deshalb, sondern auch, weil sie sich im Reich der Krankheit so gut auskannte, skeptisch gegen jedes Bündnis von Emanzipation und "Natur".

Wer auf diskrete Weise etwas über sie selbst erfahren will, der greife zu ihrem Essay "Die Bewegungen der Freundschaft" (1986), in dem sie die literarische Form des Essays und die soziale Form der Freundschaftsbeziehung ineinander spiegelt. Mit feinem Stift porträtierte sie den empfindsamen Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts, ohne ihn - trotz leichten Spotts - der Karikatur zu überantworten. Das Talent zur Freundschaft, das Talent zum Essay und die Absage an die Bitterkeit prägen ihr Erfolgsbuch "Älterwerden", das 2006 eine neue Phase ihrer Autorschaft einleitete. Es handelt durchaus nicht nur vom Alter, man findet darin auch das Kind der Nachkriegszeit, das noch den Pferdefuhrwerken nachsah, und der Lebensgefährtin, der Malerin Sarah Schumann, der sie 2015 den Band "Sarahs Gesetz" widmete.

"Älterwerden", nicht zuletzt eine Anknüpfung an Simone de Beauvoirs Buch über das Alter, war zwischen fragmentarischer autobiografischer Erzählung und Essay angesiedelt, danach, von "Verschwunden" über "Wer weiß was" und "Wie geht es Georg Laub?" bis "Nur Mut", probierte sie Erzählmodelle aus, kreuzte Kriminal- und Campusroman, hetzte einem erfolglosen Schriftsteller Facebook-Meuten auf den Hals und schrieb für ein Quartett alter Damen eine Salonkomödie in Prosa, in der eine Figur mitspielt, die ihr lieb und wert war: die spitze Zunge.

Diese spitze Zunge war das Organ der Ironie, der Selbstironie und der Unsentimentalität. Physiognomisch gesehen, war sie mit den hellen Augen und den Lachfalten im Bunde, historisch gesehen mit der Frühromantik und ihrer Definition von Witz als "logische Geselligkeit". Das ernste Spiel, nicht zuletzt das ernste Wortspiel gehörte zu ihren Leidenschaften. Ihre Vorstellung vor der Akademie gliederte sie, im Rollstuhl sitzend, mit den Zeilen eines Gedichtes von Clemens Brentano.

Am Donnerstag ist Silvia Bovenschen in Berlin gestorben. Es hilft nichts, wir müssen Brentanos Gedicht vollständig zitieren, um gebührend von ihr Abschied zu nehmen: Wenn der lahme Weber träumt, er webe, /Träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe,/ Träumt die stumme Nachtigall, sie singe, /Dass das Herz des Widerhalls zerspringe, /Träumt das blinde Huhn, es zähl' die Kerne, /Und der drei je zählte kaum, die Sterne, /Träumt das starre Erz, gar linde tau' es, /Und das Eisenherz, ein Kind vertrau' es, /Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche,/ Wie der Traube Schüchternheit berausche; / Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen, /Führt der hellen Töne Glanzgefunkel/ Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel, / Rennt den Traum sie schmerzlich übern Haufen,/ Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schalmeien / Der erwachten Nacht ins Herz all schreien; /Weh, ohn Opfer gehn die süßen Wunder, /Gehn die armen Herzen einsam unter!

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