Nachruf:Seine eigene Zeit

'O Estranho Caso de Angelica' Photocall - Cannes

Er war der älteste arbeitende Regisseur und wohl auch der geduldigste: Manoel de Oliveira, der nun mit 106 Jahren gestorben ist.

(Foto: AP)

Der Filmemacher Manoel de Oliveira, der jetzt im Alter von 106 Jahren gestorben ist, hat quasi die gesamte Filmgeschichte mit all ihren Tiefen und Höhen erlebt.

Von Susan Vahabzadeh

Als Manoel de Oliveira beschloss, Filmemacher zu werden, war das Kino noch eine junge Kunst. Er hatte Walter Ruttmanns "Berlin - Sinfonie einer Großstadt" gesehen, ein Dokumentarfilm-Experiment, er war neunzehn Jahre alt, es war das Jahr 1927, und am ersten abendfüllenden Tonfilm wurde im fernen Amerika noch gearbeitet. Es ist so viel geschehen, das Kino hat sich radikal verändert, seit Oliveira 1931 "Harte Arbeit am Fluss Douro" gedreht hat - es wurde erst laut und dann farbig, die übermächtige amerikanische Filmindustrie, die das europäische Kino an den Rand drängte, ist überhaupt erst entstanden und hat ein halbes Dutzend Krisen hinter sich, der Computer wurde erfunden und verwandelte den Realfilm immer mehr in realistischen Zeichentrick. Wahrscheinlich kann man nur so lange Filme machen, wie Manoel de Oliveira es getan hat, mehr als achtzig Jahre lang, wenn man sich nie dem Zeitgeist unterordnet.

Oliveira hat als Dokumentarist angefangen und sich dann als Markenzeichen einen surrealen, versponnenen Touch erarbeitet. In "O Covento" geht es um einen amerikanischen Professor (John Malkovich) der mit seiner Frau (Catherine Deneuve) in ein Kloster reist, weil er hofft, dort Dokumente zu finden, um zu beweisen, dass Shakespeare Spanier war. Es ist ein Film voller lyrischer Dialoge, unterlegt mit einem schrillen Soundtrack, in dem die beiden Protagonisten in langen Einstellungen umeinander herumschleichen. Die ruhige Kamera wurde sein Markenzeichen. Seinen eigenen Rhythmus, die Langsamkeit, hat sich Oliveira in seinen Filmen bewahrt.

Es war keine schnelle Karriere. Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis er 1942 seinen ersten Spielfilm machte, "Aniki-Bóbó", nach einem Abzählreim benannt, erzählt von Kindern in Porto. Und hätte man diesem Film nicht später attestiert, dass er den italienischen Neorealismus vorwegnahm, hätte es den Oliveira, der später Filme machte wie "Reise an den Anfang der Welt" (1997), mit Marcello Mastroianni, oder "Ich geh' nach Hause" (2001) mit Michel Piccoli, vielleicht gar nicht geben können.

Oliveira wurde am 11. Dezember 1908 in Porto geboren, die Eltern besaßen Fabriken, und die meiste Zeit arbeitete er im Familienunternehmen. Das Kino blieb lange ein Luxus, den er sich nur leistete, wenn keine Zensoren ihn hinderten. In den Dreißigern fuhr er eine Weile Autorennen, nach "Aniki-Bóbó" schaffte er es erst in den Sechzigern wieder, ein Projekt zu realisieren. Erst nach der Nelkenrevolution in Portugal konnte Oliveira frei arbeiten. So kam es dann, dass er die zwei Drittel seiner über sechzig Filme, viele davon Kurzfilme, erst in einem Alter drehte, in dem die meisten anderen Regisseure sich zurückziehen. Er schuf ein poetisches Kino, entrückte Gestalten, mit eigenen Perspektiven. In "Ich geh' nach Hause", einem seiner schönsten Filme, spielt Piccoli einen alternden Schauspieler, der seine Familie verloren hat und sich um seinen Enkel kümmern muss, der sich ins Altwerden nicht fügen mag. Und einmal spielt er, ohne dass wir ihn sehen, wir hören ihn und sehen die Wirkung seines Spiels, reflektiert im Gesicht seines Regisseurs.

"Der seltsame Fall der Angelica" (2010) war einer seiner letzten Filme, und ganz sicher ist Oliveira, der als ältester arbeitender Filmemacher galt, damit auch der Titel des geduldigsten Filmemachers aller Zeiten zugekommen. "Angelica" ist eine romantische Geistergeschichte, in der ein Fotograf ein Bild macht von einer toten Braut, das ihn nicht mehr loslässt. Er habe, hat Oliveira erzählt, dieses Drehbuch schon zu Beginn der Fünfzigerjahre geschrieben, die Zensur lehnte es ab. Es passt zu seinem laxen Verhältnis zur Zeit, für ihn war alles immer vergangen. Jedes Bild ist schon Geschichte, wenn es entsteht, sagte Oliveira 1994 bei seinem Auftritt in Wim Wenders' "Lisbon Story": Die ganze Welt ist Illusion, sagt er da, wir haben nur die Erinnerung. Und selbst unsere Erinnerungen haben wir erfunden.

Kurz vor Ostern ist Manoel de Oliveira im Alter von 106 Jahren gestorben.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: