Nachruf:Schweigen vor Picasso

Hinter kühler Abstraktion verbirgt sich der Schatten eines Blatts. Der Amerikaner Ellsworth Kelly, einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart, ist im Alter von 92 Jahren im Norden von New York gestorben.

Von Peter Richter

Wenn in Berlin die Reisebusse zwischen Kanzleramt und Paul-Löbe-Haus halten, damit die Leute ins Innere der Macht schauen können, dann sehen sie da eine Arbeit von Ellsworth Kelly. Gerade bei Dunkelheit - in Berlin also das ganze Winterhalbjahr über - sieht man dort eigentlich vor allem den Kelly: vier Vierecke vor der beleuchteten Front des Abgeordneten-Baus, eines blau, eines schwarz, eines rot, eines grün, keines regelmäßig und keines gerade; man könnte meinen, sie tanzen. Man muss nicht zwingend an politische Blöcke denken dabei. Aber man darf sicherlich.

Wenn in Dallas die Football-Fans ins Stadion gehen, dann sehen auch sie seit einem Monat zunächst einmal eine Arbeit von Ellsworth Kelly. Man kann in der weißen Skulptur ein großes C sehen, immerhin spielen dort die Dallas Cowboys. Man muss aber nicht. Kelly sah eher eine Landschaft darin, eine selbstausgedachte.

Denn so verhält sich das generell mit der Kunst dieses Mannes: Man findet sie an allen möglichen Orten, und von allen möglichen Orten kam sie seinen eigenen Auskünften zufolge auch zu Kelly. Mal war es der Schatten eines Blattes, mal der Raum zwischen zwei Körpern, und fast immer war es so, dass Kelly erst etwas Handfestes daraus machen musste (meistens recht groß und meistens von metallischer Glattheit), damit diese kleinen ästhetischen Sensationen für alle sichtbar wurden. Die konnten dann zwar maulen, dass ein Kunstwerk, das aus einem lackierten Viereck besteht, zunächst einmal bestürzend simpel wirke, aber um die unabweisbare Schönheit kamen sie trotzdem nicht herum.

Nachruf: Ellsworth Kelly setzte sich ab vom Action Painting: ein Bild wie "White Black Red" (2004) sortiert die Farben sauber.

Ellsworth Kelly setzte sich ab vom Action Painting: ein Bild wie "White Black Red" (2004) sortiert die Farben sauber.

(Foto: Mandel Ngan/AFP)

Irgendwann kam deshalb die Welt nicht mehr um Ellsworth Kelly herum. Und um genau zu sein, waren das die späten Fünfziger. Wer heute an der Südspitze Manhattans über das Kopfsteinpflaster des Countie Slip läuft, ahnt oft nicht, dass dieser letzte sichtbare Rest der alten holländischen Kolonialstadt damals der Montparnasse von New York war - mit Kelly als Picasso oder jedenfalls als Mittelpunkt. Jasper Johns arbeitete nebenan, Agnes Martin ein Stockwerk darunter und Robert Indiana war Kellys Geliebter. Mit der alten Garde, die ein paar Meilen weiter nördlich um den Union Square immer noch expressiv mit ihren Farben und Egos um sich warfen, wollte man dort nichts zu tun haben. Kelly war nach New York gekommen, als Jackson Pollock starb, 1957, und davor war er tatsächlich mit einem Stipendium für amerikanische Weltkriegssoldaten lange in Paris gewesen. Er hatte Picasso getroffen, aus Scheu aber nicht mit ihm geredet. Er hatte Brancusi besucht. Und er hatte Fernand Léger das "Selbstporträt mit Trompete" gezeigt, das er noch zu Hause an der Kunstschule in Boston unter dem Eindruck von Max Beckmann gemalt hatte. Légers Kommentar: Der junge Mann da sollte lieber in Amerika Trompete spielen. Das war nicht nett, aber hilfreich.

Ob Parlament oder Stadion: Mit einem farbigen Paneel sieht alles gut und zeitgenössisch aus

Kelly hat danach nie wieder jemanden imitiert. Am ehesten könnte man in seiner Kunst noch den Einfluss von Matisse dingfest machen. Aber vor allem hat sich in Paris offensichtlich ganz im Wortsinn sein Blick erfrischt, gerade wenn er auf Dinge fiel, die man Topoi nennt, die traditionsschweren Gemeinplätze der Kunstgeschichte. Auch Kelly hat in den Cafés von Paris gesessen, und auch er hat durch die großen Fensterscheiben geschaut. Aber zum Bild gemacht hat er nicht "das Leben" oder Kunsttheoretisches über die Funktion des Fenster beim Blick in die Welt, sondern dessen Maße. Ihm gefielen die Pariser Fenster als solche, als Architektur. Ungegenständlich kann man so etwas eigentlich kaum nennen, abstrakt trifft es auch nur bedingt und weil man für die Kunst halt Schubladenbeschriftungen braucht. "Hard Edge" war so eine. Wegen der industriemäßig klaren Kanten, des Tilgens der Handschrift. Aber der Begriff stößt sich immer ein wenig an der optimistischen Präsenz von Kellys Formen und Farben. Es ist insofern vielleicht kein Wunder, dass sie sich so gut als Bauschmuck machen. Parlamentsgebäude, Gerichte, Museen und Privatanwesen sowieso: mit einem farbigen Paneel oder einer Skulptur von Ellsworth Kelly sieht fast alles gut, zeitgenössisch, geschmackssicher aus; die freundliche Neutralität dieser Kunst lädt dazu ein. Kelly war das offensichtlich durchaus als Problem bewusst. Es ist überliefert, dass er energisch gegen passend zu seinen Arbeiten gestelltes Mobiliar einzuschreiten wusste, wenn er den Kunstcharakter seiner Kunst in Gefahr sah.

US-Maler Ellsworth Kelly mit 92 Jahren gestorben

Der Amerikaner Ellsworth Kelly (1923-2015) gilt als einer der bedeutendsten abstrakten Maler der Gegenwart. Dennoch erhielt er seinen Bildern einen Rest von Wirklichkeit.

(Foto: Roland Scheidemann/dpa)

Aber das ist vielleicht auch nur etwas, das man zu den Ambivalenzen zählen muss, die Kellys Werk bis heute so reizvoll halten. Und obwohl dieses Werk schon vor so langer Zeit entwickelt wurde, wirkt es ja immer noch und immer wieder ganz aktuell und heutig. Ellsworth Kelly, die Jahrhundertfigur, die Picasso noch kannte, aber mit de Kooning nichts trinken wollte, war im Kunstbetrieb der Gegenwart absolut präsent. Ständig sah man neue Sachen, hörte von neuen Vorhaben, las über ihn.

Vor ein paar Wochen noch war eine Kollegin vom Guardian bei ihm in Spencertown, drei Stunden nördlich von New York. Dort hat er seit dreißig Jahren mit dem Fotografen Jack Shear gelebt und gearbeitet. Ellsworth Kelly, schon 92 Jahre alt, wollte, so sagte er, am liebsten noch 15 Jahre dranhängen. Aber daraus wurde nichts. Er hing schon länger an einer Atemmaschine, seine Lungen waren kaputt. Da er nicht geraucht hatte, schob er es auf das Terpentin. Am Sonntag ist Ellsworth Kelly nun, wie sein Galerist mitteilt, in Spencertown gestorben.

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