Nachruf:Philologe der Erschütterungen

Nachruf: Gerhard Neumann (1934-2017) lehrte seit 1986 in München.

Gerhard Neumann (1934-2017) lehrte seit 1986 in München.

(Foto: privat)

Der Literaturwissenschaftler Gerhard Neumann ist tot, der Texte nicht als Rätsel, sondern als Spannungsfeld verstand.

Von Lothar Müller

Bedeutende Philologen sind Seismografen. Sie kennen die Schichten und Ablagerungen der Sprache so gut wie die Geologen die Gesteinsschichten und registrieren in den Texten, die sie untersuchen, noch die kleinsten Erschütterungen, von denen sie Zeugnis ablegen. Um dazu in der Lage zu sein, müssen sie eine Grundeigenschaft mit den Messgeräten der Geologen teilen, die Empfindlichkeit. In Gerhard Neumann, der 1934 in Brünn geboren wurde, im Nationalsozialismus Kind war und seine Jugend in einer Nachkriegsgesellschaft voller innerer Zerrüttungen verbrachte, muss diese Empfindlichkeit früh herangewachsen sein.

Sie war jedenfalls ausgereift, als er nach dem Studium der deutschen und französischen Literatur 1963 in Freiburg mit Studien zu Goethes "Torquato Tasso" promovierte. Ihm war in der formvollendeten Sprachgestalt eine nicht zu bändigende Unruhe aufgefallen, eine Dramaturgie, in der keine Figur durch ihren Willen den Gang der Handlung bestimmt und jede scheitert, die es versucht. Der Wahrnehmungsapparat dieses Philologen war auf solche Unruhemomente geeicht, auf Katastrophen, die weder dem Tun noch dem Lassen, sondern dem bloßen Dasein entspringen, auf Paradoxien, die sich als selbstgewisse Sentenzen tarnen, auf Sprachbewegungen, die an die Grenzen der Sprache führen.

Die sanfte Eindringlichkeit seiner Stimme war für Fragen und Nachfragen gut geeignet

Neumann hatte bereits die Paradoxien Kafkas, die Sprachbilder Stéphane Mallarmés und Paul Celans erkundet, als er sich in seiner Habilitationsschrift "Ideenparadiese" (1972) der Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe zuwandte. Die Form des Aphorismus setzt in dieser Studie die Vertreibung aus den Ideenparadiesen voraus, die Störung von Ordnungen, sie gedeiht am besten dort, wo Krisen im individuellen Bewusstsein bewältigt werden müssen. Wenn es am Ende heißt, der Aphorismus ziele auf "die wechselseitige Erschütterung von Denk- und Gefühlssicherheit" ab, so umschreibt diese Formel zugleich das Interessenzentrum des Verfassers.

In weit ausgreifenden Bewegungen entwickelte Neumann seine Philologie um dieses Zentrum herum, als Entzifferung von Erschütterungen des Denkens und Fühlens, ob im Blick auf Goethe und Schiller oder Nikolaus Lenau und Kleist. Der Ausgangspunkt, die minutiöse Erforschung des Textes, der Rückgang auf die Handschriften, etwa Kafkas, blieb dabei immer erhalten. Aber wo es ihm notwendig schien, öffnete er das traditionelle Terrain, etwa für die Einsichten des französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus, oder für die Anthropologie und Ethnologie, wenn es um die Rituale der Macht oder des Essens ging.

Nach Professuren in Bonn, Erlangen und Freiburg kam er 1986 nach München und zog dort ganze Generationen von Studenten in seinen Bann, indem er sie lehrte, Texte als Spannungsfelder zu begreifen statt als Rätselaufgaben. Spannungsfeld, das hieß auch Performance, das Theatralische an Texten entging ihm nicht. Und wenn er auf Fontanes Romane blickte, sah er in den Dialogen, in Geplauder und Konversation, die Symptome der Krisen, die der Autor diagnostizierte.

Die sanfte Eindringlichkeit seiner Stimme dürfte zu der Intensität beigetragen haben, die Neumanns Lehre und Vorträge auszeichnete. Diese Stimme war für Fragen und Nachfragen gleich gut geeignet, sie war mit der Philologie der Erschütterungen im Bunde. Immer wieder kam sie auf Franz Kafka zurück, auf den bösen Blick, den er auf seine Figuren wirft, auf die "Mikrologie der Macht" in den Erzählungen und Romanen, auf die Experimente mit Legende, Parabel und Bildungsroman, auf die Verhörrituale und die Gewalt, die der Sprache innewohnen kann. Manches davon kann man in seinem letzten Buch, "Franz Kafka. Experte der Macht" (2012), nachlesen.

Am Mittwoch ist Gerhard Neumann in Berlin, wo er nach der Emeritierung lebte, gestorben.

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