Nachruf:Meisterregisseur des Illusionstheaters

July 21 2015 File EDGAR LAWRENCE aka E L DOCTOROW was an American author known internationall

Fürs reine Unterhaltungsgewerbe war der große Theaterdirektor E.L. Doctorow dann doch zu sehr der ungeliebten Avantgarde verpflichtet.

(Foto: imago)

E.L. Doctorow erzählte, wie alles kam - im Alter von 84 Jahren ist der freundliche Geschichtslehrer der Literatur nun gestorben. Sein letzter Roman erscheint postum.

Von Willi Winkler

Wenn die gute alte Literatur Illusionstheater ist, aufgeführt auf knarzenden Dielen, mit klappender Falltür, mit Staub in der Luft und Sägemehl am Boden, dann war E.L. Doctorow ihr König. Er konnte Geschichte so rekonstruieren, dass es kein Lehrstück, sondern ein Abenteuer wurde. Wer wäre sonst auf den vermessenen Gedanken verfallen, die urdeutsche Rechthaber-Moritat vom Rosshändler Michael Kohlhaas als "Ragtime" (1975) in die vorletzte amerikanische Jahrhundertwende zu transponieren, mit einem schwarzen Musiker namens Coalhouse Walker, dem ein rassistischer Feuerwehrmann sein neues T-Model ruiniert? Und darum herum ein blinkendes Kaleidoskop mit der ganzen Durcheinanderwelt der Vorkriegszeit zu inszenieren, bevölkert mit Nationalrevolutionären, Milliardären, Anarchisten, mit dem Entfesselungskünstler Harry Houdini und einem hoffnungslos verstörten Touristen namens Sigmund Freud?

Niemand sonst - der Seeleningenieur Woody Allen vielleicht ausgenommen - wäre auf die Idee gekommen, dem Erfinder der Psychoanalyse bei seiner Amerikatournee dann auch noch Verdauungsprobleme zuzuschustern und zu behaupten, der Mangel an öffentlichen Toiletten habe dem rachsüchtigen Freud eingegeben, Sex in Amerika auf alle Zeit zu zerstören. Andererseits und unter uns: War Freud nicht ziemlich erfolgreich damit?

Edgar Lawrence Doctorow, den seine Eltern nach dem Phantasten Edgar Allan Poe benannten, kam 1931 im New Yorker Stadtteil Bronx zur Welt und wuchs zu einem phantastischen Realisten heran. Er war ein halbes Wunderkind, las alles, was modern war und unter Avantgarde-Verdacht stand, landete aber trotzdem in der Army. Um seine Familie zu ernähren, arbeitete er als Lektor, wurde schließlich sogar Taschenbuchverleger.

Absurderweise durfte er dabei zwei der schlechtesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts betreuen, Ian Fleming und Ayn Rand. Aus Widerwillen gegen das Zeug, das verlangt oder unverlangt eingesandt wurde, schrieb Doctorow eine Westernparodie, "Willkommen in Hard Times" (1960; deutsch erst 1987), die im Nachhinein wie ein Vorläufer zu den Anti-Western der frühen Siebziger wirkte.

"Der typische amerikanische Junge fürchtet sich nicht vor Gefahren."

Wenn Joyce versprach, nach den Beschreibungen in seinem "Ulysses" könne man Dublin neu erbauen, so gilt das analog für Doctorows Fähigkeit, das alte New York der Einwanderer nachzubilden. Es gab da jüdische Gangster, italienische Abenteurer und irische Polizisten, die nichts mit der angelsächsischen Regierungsschicht der Ostküste zu tun hatten, und Doctorow, ein lebenslänglicher Sozialdemokrat, vertiefte sich mit unendlichem Forscherfleiß in ihr Leben. Leider liest niemand mehr sein "Buch Daniel" (1971), das das große jüdisch-amerikanische Trauma der Fünfzigerjahre, die Hinrichtung der Atomspione Julius und Ethel Rosenberg, wie eine nationale Selbstbefragung behandelt, ohne dass sich der Erzähler, der bereits der Vietnam-Protestgeneration angehört, dabei das Raunen verbietet.

In "Billy Bathgate" (1989) wird der Aufstieg der Mafia wie der eines klassischen Unternehmens geschildert, in dem zwar hin und wieder ein Rivale ermordet werden muss, die größte Gefahr aber von der Steuerbehörde droht.

Für diese Bücher gab es die für halbwegs beständige Autoren vorgesehenen Preise und zum Teil mehrmals den National Book Award, den Pulitzerpreis - die üblichen Goldenen Ehrennadeln und Präsidentenbelobigungen folgten zu angemessener Zeit. Fürs Unterhaltungsgewerbe war der Theaterdirektor Doctorow dennoch immer zu sehr in der vom Publikum wenig geliebten Avantgarde zu Hause. "Ich fertige meine Bücher, wie Architekten Häuser bauen; man soll drin wohnen können", hat Doctorow einmal sein erzählerisches Prinzip erläutert.

Damit segelte er weitab von John Updikes leibfrommer Erzählfreude und wich auch nicht in den paranoiden Furor Norman Mailers aus. Doctorow war einfach nie bereit, dem Leser das blutvolle Erzählen, schon gar nicht den polierten Knauf zu schenken, der im Hause des Kommerzienraths so erinnerungsbrunnentief blinkt, oder überhaupt das ganz große Geschwalle, das den Erfolg im Herbstprogramm garantiert.

So konnte er sich sogar ins Allerheiligste wagen, an die Schlachten des Bürgerkriegs, das Lieblingsthema aller Amateurhistoriker. "Der Marsch" (2005) gilt einem der finstersten Kapitel in der amerikanischen Geschichte, dem Feldzug, den der Nordstaaten-General William Tecumseh Sherman Ende 1864 durch den rebellischen Süden unternimmt. Mit der mörderischen Wut des Siegers fräst sich Sherman mit seiner Armee durch das bereits kriegsverheerte Georgia zur Atlantikküste. Wer nicht begreifen kann, dass dieser Süden bis heute an der Konföderierten-Flagge festhält, versteht es vielleicht, wenn er dieses Buch des Gemetzels liest.

Der freundliche Geschichtslehrer Doctorow erzählt in seinen Romanen, wie alles kam, wie sich aus Monopolismus, sozialen Unruhen, Überproduktion, Rassenhass, scheinbar unüberwindlicher Feindschaft dennoch eine amerikanische Nation entwickeln konnte, der es - hat jemand Irakkrieg gesagt? - immer erst zu spät dämmert, dass "unser Ende in unserem Anfang lag".

Wo Deutsche sich um den wärmenden Geschichtspessimismus von Carl Schmitt und Reinhard Koselleck versammeln würden, vergisst Doctorow nie die Feier des Lebens. In "World's Fair" (1985) gibt er ausnahmsweise dem meisterhaften Puppenspieler frei, der er sonst immer sein will, verzichtet auf die Distanzierung mithilfe unhintergehbarer geschichtlicher Vorgänge und berichtet, kaum verklausuliert, von seiner eigenen Kindheit in den Dreißigern, als der Weltenlauf sich zu beschleunigen schien.

Edgar Altschuler erlebt, wie die Hindenburg bei der Landung auf dem Flughafen in Lakehurst in Flammen aufgeht, er sieht - die Flucht der Juden aus Deutschland hat bereits begonnen -, wie die ersten Hakenkreuze auftauchen, und er hofft, dass er mit seinen zerstrittenen Eltern die Weltausstellung besuchen kann. Das gelingt ihm, weil er einen Aufsatzwettbewerb gewinnt, bei dem er sich endlich über das ängstliche, bettnässende Kind hinausschreibt. "Der typische amerikanische Junge fürchtet sich nicht vor Gefahren. Er sollte imstande sein, aufs Land hinauszugehen und Kuhmilch zu trinken. Desgleichen sollte er Hügel und Täler der Stadt durchstreifen. Ist er Jude, sollte er es sagen."

Ohne Zola oder Balzac zu bemühen, erscheint Doctorows Werk im Rückblick wie eine grandios entworfene und verführerisch erzählte Chronik der letzten anderthalb amerikanischen Jahrhunderte. Am Dienstag ist der Meisterregisseur des Illusionstheaters, E.L. Doctorow, 84-jährig in New York gestorben. Die deutsche Ausgabe seines letzten Romans "In Andrews Kopf" erscheint nun postum, und zwar am 17. August.

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