Nachruf Lars Gustafsson:Mauer gegen die Zeit

Close Up Lars Gustaffson

Am Ende wurde die Sicht fast mediterran für Lars Gustafsson.

(Foto: Frederic Reglain/laif)

Er liebte das Experimentelle, das Fragmentarische, den Versuch. Am Sonntag ist der schwedische Schriftsteler Lars Gustafsson gestorben.

Wo Lars Gustafsson war, da war ein sonderbarer Laut. Er entstand tief hinten im Rachen und war nur bei rund geöffnetem Mund hervorzubringen. "Aaah" sagte Lars Gustafsson dann, wobei das "A" zum "O" changierte, untergründig ein wenig knurrte und an den ersten Ton eines Elchs erinnerte, der in Västmanland, der waldreichen Heimat Lars Gustafssons, aufwacht und sich erst einmal der eigenen Existenz versichern muss. Lars Gustafsson sagte oft "Aaah": wenn er "ja" sagen wollte, wenn er Bedenkzeit brauchte, wenn es galt, einen Gesprächspartner auf Abstand zu bringen oder jemanden der Gemeinsamkeit zu versichern oder auch nur kundzutun, dass es schon sehr spät ist. Es ist seltsam, dass dieses "Aaah" nun nicht mehr ertönen soll. Denn dieses knurrige "Aaah" war immer schon da, wenn man irgendwohin kam, nach Stockholm oder nach Berlin, nach Mailand oder nach New York. Und es schien schon seit jeher da zu sein: Im Jahr 1951 hatte Lars Gustafsson seinen ersten Roman veröffentlicht, unter dem Titel "Vägvila" (Wegesruh). Er dürfte einer der wenigen seiner Werke sein, die nicht in eine weltweite Zirkulation gingen.

Lars Gustafsson war ein schwedischer Schriftsteller, tief verwurzelt in den Eigenarten und Gebräuchen seiner Weltgegend - man muss ergänzen: seiner jeweiligen Weltgegend. Im Roman "Tod eines Bienenzüchters" (1978) folgte er einem frühpensionierten Lehrer in die Einöde der Wälder von Västmanland, im "Nachmittag eines Fliesenlegers" (1991) verwandeln sich das detailliert beschriebene Handwerk in eine Allegorie von Sinnansprüchen und Vergeblichkeit, im "Dekan" (2004) geht es keineswegs zuletzt um die Amtsgeschäfte eines amerikanischen Wissenschaftsmanagers. Von beinahe unendlicher, enzyklopädischer Größe schien das intellektuelle Register dieses Autors zu sein, bei gleichbleibend hoher Intensität - vom Roman über die Lyrik, den Essay, den politischen Kommentar bis zu einer durchaus fachlich verstandenen Philosophie reichte es mit stets spielerisch vorgeführtem Ernst.

Sein Œuvre ist von überwältigender Größe. Es schließt die Übersetzung (Rainer Maria Rilke, Seamus Heaney, Michael Krüger), die Malerei (Separatausstellungen in Stockholm und Berlin) und die Musik (mit einer besonderen Leidenschaft für Bach) ein. Zugleich führte Lars Gustafsson eine kosmopolitische Existenz, und wenn er zwar im Sommer meist in einem roten Holzhaus an einem See lebte, so gab es daneben die Jahre in Berlin (1972 bis 1974) sowie mehr als zwei Jahrzehnte (1983 bis 2006) als Professor für Literatur an der University of Austin in Texas - um von unzähligen Besuchen von Konferenzen und Tagungen, Podiumsdiskussionen und Buchmessen gar nicht erst anzufangen. Er beherrschte viele Sprachen, man konnte ihn auf Englisch, Deutsch und Italienisch reden hören. Aber sie alle klangen bei ihm, als wären sie Schwedisch, einschließlich des "Aaah", in dem sich auf seltsame Weise Staunen und Müdigkeit verbinden und das der Ton eines Mannes war, den nichts aus der Fassung zu bringen vermochte.

Sprache und Lüge, dem Thema blieb er treu, es ist der Titel seiner Dissertation

Einem Thema indessen blieb Lars Gustafsson in seiner so langen und bunten Laufbahn treu: dem Thema seiner Dissertation. "Sprache und Lüge" heißt dieses Buch, und von eben diesem Verhältnis handelt sogar das scheinbar biografisch persönlichste seiner Werke, nämlich der Roman "Herr Gustafsson persönlich" (1971). Darin fliegt der Schriftsteller von Frankfurt nach Berlin, um seinen Freund Hans Magnus Enzensberger zu treffen, wobei aus einer zufälligen Begegnung im Flugzeug ein Projekt der Selbsterforschung angesichts eines sich selbst offenbar immer fremder gewordenen Lebens beginnt - doch so etwas wie Erkenntnis, gar wie Wahrheit blitzt darin immer nur kurz auf, und meist in der Erinnerung, nicht im Augenblick des Erlebens, und auch das autobiografische Projekt, mit dem das Buch endet, erweist sich von vornherein als von Fiktion durchdrungen. Unter Lars Gustafssons vielen Werken gibt es zu diesem Buch ein spätes Komplement. Das ist die Verserzählung "Die Sonntage eines amerikanischen Mädchens" (2008), ein Versuch, mit poetischen Mitteln von einer jungen Frau zu erzählen, die beim Waschen ihres Autos entführt und dann ermordet worden war - Lars Gustafsson hatte die Geschichte in einer Zeitung gelesen. In Versen schreibt Lars Gustafsson dieses schmale Werk, weil er auf der einen Seite jeden Eindruck vermeiden möchte, es handele sich dabei um eine Kolportage aus dem wirklichen Leben. Auf der anderen Seite sucht er die poetische Formel, um ein Wesen, von dem er fast nichts weiß, in eine menschliche Figur zu verwandeln. Auf beiden Seiten lässt er dabei die Konstruktion sichtbar sein: Er schreibt einen Nekrolog auf einen unbekannten Menschen, und er räsoniert über die Bedingungen und Möglichkeiten eines solchen Nachrufs: "Ist es gegen die Zeit, gegen den Tod selbst, / gegen all das, was strömt, / dass Menschen diese Mauer von Zeichen errichten, / die sich ängstlich ineinander verhaken?" Es herrscht hier, wie in vielen Büchern Lars Gustafssons, eine ganz eigene Perfektion des Versuchs, des Fragmentarischen und Experimentellen, der infrage gestellten und sich selbst immer wieder infrage stellenden Recherche - wobei er eine wahrlich erstaunliche Fertigkeit in der Kunst an den Tag legt, den Leser nicht an die Langeweile der existenziellen Spekulationen zu verlieren.

Nein, es funktioniert umgekehrt: Lars Gustafsson findet eine verlockende Geschichte, reich an sinnlichen Details, lebendig in ihrer Nähe zu alltäglichen Ereignissen, stark in ihrem erzählerischen Potenzial. Und dann macht er seine Leser zu Komplizen in deren allmählicher Auflösung ins Spekulative - ohne doch die Bindung ans Lebenspraktische aufzugeben. Eines der besten Beispiele für dieses Verfahren findet sich in einem der letzten Bücher, in dem unbedingt lesenswerten kleinen Roman "Der Mann auf dem blauen Fahrrad" (2013). Er erzählt davon, wie sich im Jahr 1953 ein Vertreter für eine universelle Haushaltsmaschine auf dem Fahrrad auf den Weg durch die schwedische Provinz (wieder Västmanland) macht und nach einem Unfall in einem Herrenhaus landet, das von einer sterbenskranken alten Dame beherrscht wird. Als "porös" bezeichnet der Erzähler das Verhältnis des Radfahrers zur Wirklichkeit, und so nehmen die Dinge ihren Lauf, im Anblick alter Gedichtbände, eines Fotoalbums, einer Haushaltsmaschine mit dem Namen "Assistent".

Er blieb ein Einzelgänger, auf erratische Weise konservativ, dann überraschend modern

Lars Gustafsson war in den vergangenen Jahrzehnten, neben Per Olov Enquist, der wichtigste und auch bekannteste schwedische Schriftsteller, im eigenen Land wie anderswo (abgesehen von den Autoren der Kriminalromane). Und doch blieb er, aller Nähe zum Betrieb und allen internationalen Engagements zum Trotz, ein Einzelgänger: auf eine manchmal etwas erratische Weise konservativ, dann wieder überraschend modern (etwa als er kurzzeitig die Piratenpartei unterstützte), ein Mann von zuweilen demütigender Gelehrtheit und Bildung, der nicht recht in den ästhetischen Gemeinsinn passte, von dem etwa eine Schwedische Akademie lebt (die ihn nicht zu ihrem Mitglied machte).

Als vor zwei Jahren, in einem der größten Brände der jüngeren schwedischen Geschichte, die Wälder um seinen Sommerwohnsitz vernichtet wurden und das Feuer erst knapp vor seinem Haus innehielt, teilte er den herbeigeeilten Journalisten mit, seine Aussicht habe sich nun sehr verändert. Sie sei jetzt geradezu mediterran. Man darf als verbürgt ansehen, dass diesem Satz ein langes "Aaah" vorausging. Am vergangenen Sonntag starb Lars Gustafsson im Alter von fast achtzig Jahren in Stockholm.

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