Nachruf:Der Jahrhundertdenker

Carl Schorske

Carl Emil Schorske, 1915 in New York geboren, war ein Jahrhundertdenker der Kulturgeschichte. Seine Wien-Studie erhielt 1981 den Pulitzer-Preis.

(Foto: Oscarsson/Vienna Review)

Carl Emil Schorske beschäftigte sich mit Hitlers Hirn und und schrieb über die Sozialdemokratie. Berühmt wurde er mit seinem Wien-Buch über "Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle", für das er den Pulitzer-Preis erhielt.

Von Willi Winkler

Irgendwann wird doch noch jemand die ungeheuren Verdienste würdigen, die sich der amerikanische Geheimdienst um die Kultur erworben hat. Das Office of Strategic Services (OSS), der Vorläufer der CIA, beschäftigte nicht nur den Filmhistoriker Siegfried Kracauer ("Von Caligari zu Hitler") und den Politikwissenschaftler Franz Neumann ("Behemoth"), sondern auch den linken Heidegger-Schüler Herbert Marcuse. Zu den Männern, die Hitlers Denken analysieren sollten, gehörte dazu auch der 1915 in New York geborene Doktorand Carl Emil Schorske. Er beschäftigte sich nicht nur mit Hitlers Hirn und der Ost-West-Auseinandersetzung, sondern schrieb ein Standardwerk über die Sozialdemokratie. Berühmt wurde er aber mit seinem Wien-Buch über "Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle" aus dem Jahr 1980.

Schorske lehrte an der Wesleyan University, in Berkeley und zuletzt in Princeton. Er war also wohlversehen mit den Insignien des amtlich anerkannten Professors, doch vertrocknete seine Prosa nicht in einer Methodendiskussion auf dünnster Materiallage. Bei diesem panoramischen Denker musste es immer alles sein: politische Theorie, Hofmannsthal, Freuds "Traumdeutung" und Otto Weiningers Wahn-Werk "Geschlecht und Charakter", die Basislektüre der Wiener Intelligenz von Karl Kraus bis Wittgenstein. Schorske konnte davon erzählen, wie Theodor Herzl die Aufnahme in die Burschenschaft verweigert wurde, wie zum Inbegriff Wiens um die vorletzte Jahrhundertwende nicht nur der Klimt-Kitsch wurde, sondern die Anlage der Ringstraße und die Bauten von Otto Wagner, und wie dazwischen Georg von Schönerer und Bürgermeister Lueger die rassistischen Slogans fanden, mit denen Hitler dann in Landsberg "Mein Kampf" füllte.

Die europäische Musik, von Schubert bis Mahler, blieb ihm die wichtigste Erkenntnisquelle. Seinen Besuchern zeigte er gern das Programm mit den Liedern, die er mit anderen greisen Männern im Altersheim sang. Dort in New Jersey ist der Kulturhistoriker Carl Schorske am Wochenende im märchenhaften Alter von einhundert Jahren gestorben.

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