Nachruf:Brückenbauer zwischen Okzident und Orient

Juan Goytisolo

Kenner und Liebhaber der arabischen Welt: Juan Goytisolo.

(Foto: John MacDougall/afp)

Der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo ist im Alter von 86 Jahren gestorben. Er war ein Kenner und Liebhaber der arabischen Welt - und ein Kandidat für den Nobelpreis. Von Marrakesch aus behielt er Europa kritisch im Blick.

Von Volker Breidecker

Auch wenn das literarische und essayistische Werk von Juan Goytisolo - rund zwanzig Romane stehen neben zahllosen Erzählungen, Reportagen und Feuilletons - vorwiegend Themen und Stoffe aus Spaniens Geschichte und Gegenwart behandelt, gleicht dieser Autor eher einem herausragenden Vertreter der größeren hispanischen Welt als einem Exponenten der spanischen Nationalliteratur. Tatsächlich hat Goytisolo die wenigste Zeit seines Lebens in Spanien verbracht, dessen historischer Sündenfall in seinen Augen nicht erst mit dem Faschismus, sondern bereits mit der christlichen Reconquista des ausgehenden Mittelalters begonnen hat.

"Undankbares Land, falsch und armselig, niemals werde ich zu dir zurückkehren", schreibt der seit dem Jahr 1956 exilierte Verfasser des Romans "Rückforderung des Conde Don Julian" gleich am Anfang. Und doch steht Goytisolo im Ruf, der bedeutendste Autor der spanischen Nachkriegszeit zu sein. Dem Dauerkandidaten des Nobelpreises wurde dafür noch vor drei Jahren, als höchste literarische Auszeichnung der spanischsprachigen Welt, der Cervantes-Preis verliehen.

Als weit gereister Exilant und bekennender Homosexueller fühlte er sich nirgends zugehörig

Der Mann mit der ausdrucksstarken Miene und den hellwachen Augen unter der hohen Stirn war trotz oder gerade wegen seines Agnostizismus - gepaart mit der naheliegenden Neigung eines ehemaligen Jesuitenschülers zur Mystik - den hybriden Überlieferungsströmen der Mittelmeerkonfessionen zugetan. Insofern kann man ihn sich gut im Kreise jener französischen Trappistenmönche von Xavier Beauvois' großartigem Film "Von Menschen und Göttern" (2010) vorstellen: Das mitten im Atlas-Gebirge von Goytisolos geliebtem Marokko liegende Kloster steht in regem Austausch mit seiner sozialen Umgebung und pflegt gute nachbarschaftliche Beziehungen zur mehrheitlich islamischen Bevölkerung - bis zu dem Tag, da mordbereite Islamisten in die friedvolle Idylle einbrechen.

Standhaft und unbeirrt gegenüber dem sich allerorts ausbreitenden religiösen und politischen Fanatismus harrte der streitbare Goytisolo bis zuletzt am nordafrikanischen Meeresufer aus, um gerade von dort aus die gleichermaßen maurisch wie sephardisch geprägte historische, kulturelle und mentale Verbundenheit des Maghreb mit der Iberischen Halbinsel und dem übrigen Europa zu bekräftigen - als schlage dort noch immer das verschiedenen Religionen, Kulturen und Konfessionen gegenüber tolerante Herz von al-Andalu. Als authentisches Mittelmeergewächs nahm Goytisolo einen dezidierten historischen und kulturellen Standort ein, von dem aus der spanischen Halbinsel und dem übrigen Europa ein kritischer Spiegel vorzuhalten war. Lange Zeit war Paris sein Exilort. Dort hatte er in den Fünfzigerjahren Anschluss an die Intellektuellen der "Rive Gauche" und die Literaten um die Zeitschrift Tel quel gefunden. In Pendelbewegungen zwischen der französischen Hauptstadt und seiner seit einer Stippvisite Hugo von Hofmannsthals als "Paris des Südens" auch zu literarischem Ruhm avancierten Wahlheimatstadt Marrakesch bewohnte Goytisolo im Kreis seiner drei arabischen Adoptivkinder ein Haus am lokalen "Platz der Gehenkten", wie Hubert Fichtes gleichnamiger Roman den Namen des zentralen Marktplatzes Djeema el-fna übersetzte.

Es war im Jahrhundert von Sarajewo, dessen Urknall bis ans Ende widerhallte und dessen Echo - Fanal für das Menetekel des Untergangs von Europa - bis heute nicht versiegt ist: Im Jahr 1931 in Barcelona geboren, verlor der siebenjährige Knabe Juan seine Mutter bei einem Bombenangriff italienischer Flieger, die als Mussolinis Legionäre im Bürgerkrieg die Seite Francos unterstützten. Was Goytisolo als Berichterstatter mehrerer internationaler Zeitungen in den Jahren 1992 und 1993 unter serbischem Artilleriefeuer und unter dem Terror der Scharfschützen im belagerten, vom übrigen Europa seinem Schicksal überlassenen Sarajewo erlebte, erschien ihm als ein wahres Déjà-vu, als Wiederkehr dessen, was während seiner Kindheit bereits der Heimatstadt widerfahren war.

Zwangsjacken kultureller "Identität" lehnte er ab

Als Weitgereister, zudem als Brückenbauer zwischen den Welten des Okzidents und Orients wie zwischen den geografischen Kontinenten, sah sich Goytisolo - erst recht als bekennender Homosexueller - nirgends wirklich zugehörig, oder wie er in seiner Autobiografie schreibt: "Kastilier in Katalonien, französisch Gesinnter in Spanien, Spanier in Frankreich, Lateinamerikaner in Nordamerika, 'nesrani' oder Christ in Marokko und Kanake überall." Seine Bücher waren in Francos Spanien verboten und konnten nur als Schmuggelware aus Argentinien oder Mexiko bezogen werden. Eher leichtfüßig waren Goytisolos literarische Anfänge mit Romanen wie "Trauer im Paradies" (1958) oder "Sommer in Torremolinos" (1963). Gewichtiger bleibt seine große Trilogie aus den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren, deren erster Band "Identitätszeichen" an der exemplarischen Figur eines Exilrückkehrers die Vergeblichkeit aller Suche nach einer einmal verlorenen Identität schildert und darüber die Flüchtigkeit jedweden Identitätsstrebens schlechthin unterstreicht.

Auch in dieser Hinsicht bleibt geradezu brennend aktuell, was Goytisolo im Jahr 2004 mit Blick auf die Terroranschläge von Madrid schrieb: "Was wir von den Muslimen, die in Europa leben, verlangen müssen, ist die Einhaltung der Gesetze. Zugleich müssen wir ihnen die Rechte anbieten, die alle europäischen Bürger genießen, und ihre Integration fördern, also individuelle Freiheit, Gleichstellung der Frau, Achtung des Glaubens und der Traditionen, sofern und soweit sie der Rechtsprechung des Aufnahmelandes nicht widersprechen. Also: Menschenrechte statt Theokratie. Sozialprogramme statt Marginalisierung. Und keine Zwangsjacke kultureller 'Identität', auf beiden Seiten nicht."

Auch Europa hat da noch einige Hausaufgaben zu erledigen. Am Pfingstsonntag ist Juan Goytisolo in seinem geliebten Marrakesch gestorben. Er wurde 86 Jahre alt.

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