Nachruf auf Historiker Wolfgang Leonhard:Die Melancholie des Zeitzeugen

Historiker Wolfgang Leonhard verstorben

Wolfgang Leonhard (1921-2014) im Jahr 2007 in Berlin.

(Foto: imago stock&people)

Er schrieb mit "Die Revolution entlässt ihre Kinder" einen Nachkriegs-Bestseller: Jetzt ist der Historiker Wolfgang Leonhard, ein Revolutionär und gefragter Kenner der Sowjetunion, gestorben.

Von Willi Winkler

Bei seiner letzten Selbstkritik hatte er keine Angst mehr. Die ihn da verhören wollten, waren doch keine Kommunisten, sondern nur Apparatschiks. Die echten Kommunisten waren jene, "die sich gegen eine Unterordnung unter die Sowjetunion, gegen die unmenschlichen Methoden der Bespitzelungen wehren".

Wolfgang Leonhard war zum Apparatschik berufen. 1921 kam er in Wien zur Welt, Sohn einer Journalistin und eines Schriftstellers. Sein biologischer Vater war der Botschafter der noch blutjungen Sowjetunion, ein Vertrauter Lenins, dessen Vorname Wladimir als Auftrag an das Kind weitergereicht wurde. Als geborener Kommunist glaubte der junge Leonhard selbstverständlich an den Sozialismus, er wollte trotz Stalin und zusammen mit der ruhmreichen Sowjetunion eine neue Welt errichten. Er wuchs auf in der Berliner Künstlerkolonie am Breitenbachplatz und floh nach der Machtergreifung der Nazis mit seiner Mutter nach Moskau. Mit der Leidensfähigkeit des wahrhaft Gläubigen nahm er die Schauprozesse und den Hitler-Stalin-Pakt hin. Er ertrug es, dass seine Mutter nach Sibirien deportiert wurde, und ging auf die Parteischule. Früh übte er sich in Propaganda, sprach im Rundfunk für das antifaschistische "Nationalkomitee Freies Deutschland" und war entschlossen, ein neues Deutschland der Emigranten, Kommunisten und Juden aufzubauen.

Eine Woche vor der Kapitulation, am 30. April 1945, landete er mit der "Gruppe Ulbricht" in der Nähe von Berlin, wo eine diskrete sowjetgestützte Machtübernahme stattfand. Er sei ehrlich gewillt gewesen, schrieb er später, "alles zu tun, was in meinen Kräften stand, um die mir gestellten Parteiaufgaben vorbildlich zu erfüllen". Dass in der sowjetisch besetzten Zone bald die aus dem Hotel Lux vertraute Paranoia zur Staatsräson wurde, wollte er nicht ertragen. An der Parteischule der SED hatte er versucht, zumindest eine Diskussion über verschiedene Wege zum Sozialismus einzuführen, doch bereits nach vier Jahren floh er über Jugoslawien, das sich eben von der sowjetischen Vorherrschaft losgesagt hatte, in den Westen. Leonhard erhielt ein Stipendium in England, unterrichtete später unter anderem an der Yale University und blieb über Jahrzehnte ein gefragter Experte für die betonharte sowjetische Hegemonie.

1955 erschien bei Kiepenheuer & Witsch "Die Revolution entlässt ihre Kinder". Es war eins dieser Bücher, deren Titel sprichwörtlich wurden. Leonhards Enthüllungen wurden so dankbar aufgenommen - der Bericht gehörte zu den größten Bucherfolgen der Nachkriegszeit -, dass den meisten der melancholische Zug darin entging. Es war auch die Klage um eine in der Weltgeschichte verlorene Hoffnung.

Der Revolutionär Wolfgang Leonhard starb am Sonntag nach langer Krankheit in Daun in der Eifel. Er wurde 93 Jahre alt.

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