"Nachruf auf einen Soldaten" von Wolf Schneider:Frieden ist kein Naturzustand

Zweiter Weltkrieg, Ostfront: Leningrader Blockade, September 1941-Januar 1943,  | Second World War, Eastern Front: Siege of Leningrad, September 1941-January 1943

Der berühmte Satz ,Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin' hat seinen bösen Witz verloren: Es muss gar keiner ,hingehen', und Krieg ist doch.

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Ein Protest gegen die Brutalität, Verrohung, Entmenschlichung der Menschen durch den Krieg: Wolf Schneider hat einen "Nachruf" auf den Soldaten geschrieben. Der scharfe Analytiker überzeugt am meisten, wenn er mit dem Herzen spricht.

Von Joachim Käppner

Mehr als 20 000 Soldaten warteten noch östlich der Beresina, als die Artillerie der Russen das Feuer eröffnete. Am Ufer gab es Szenen wie aus Dantes Inferno: "Panik auf den Brücken, umgestürzte Wagen, zertrampelte Leiber, Geschubste und Ertrunkene", schreibt Wolf Schneider. Wer versuchte, durch den eisigen Fluss zu schwimmen, erfror oder ging unter.

Die Schlacht, oder besser: das Gemetzel an der Beresina im November 1812 vollendete die Katastrophe der Grande Armée, mit der Napoleon erst wenige Monate zuvor hochgemut Richtung Moskau gezogen war. Nur ein Bruchteil von gut einer halben Million Männer - Franzosen und gepressten Soldaten aus den unterworfenen Staaten Europas - kam zurück.

Wolf Schneider, Jahrgang 1925, hat ähnliches Grauen noch selbst erlebt. Er beschreibt sich als einen, "der es 1945 in der deutschen Wehrmacht zum Unteroffizier gebracht und sich im Krieg in keiner Weise hervorgetan hat". Aber losgelassen hat ihn der Krieg nie mehr, als er später Reporter der SZ, Verlagsleiter des Stern oder Chefredakteur der Welt war.

Die meisten Leser kennen Schneider als früheren Leiter der Hamburger Journalistenschule und gestrengen Sprachpapst, der in seinen Büchern der eigenen Zunft unnachsichtig den Spiegel vorhielt. Tausende Nachwuchsreporter haben von ihm gelernt. Seit er in amerikanischer Gefangenschaft über die "Verwirrungen des Soldatseins" nachgedacht hatte, wollte er genau darüber schreiben.

Der Mensch als des anderen Menschen Wolf

Nun hat er es getan: "Der Soldat. Eine Weltgeschichte von Helden, Opfern und Bestien" versteht sich als "ein Nachruf". Zugrunde liegt sein eigenes "Buch vom Soldaten", erschienen 1964, nach bitteren Debatten um die Wiederbewaffnung. Wie Schneider heute sagt, habe er es verfasst "mit der klaren Absicht, die Gestalt des Soldaten nicht mit diesem Hass alleine zu lassen". Das mag etwas zwiespältig klingen. Doch war Schneider damals einer der Ersten, die sich überhaupt kritisch mit der Rolle des Soldaten in der deutschen Geschichte befasste, ohne diesen zu verklären, wie das in den frühen Sechzigern noch üblich war, oder ihn pauschal zu verdammen. Wie sieht die Perspektive des Kriegführenden aus, des einfachen Soldaten, des Befehlsempfängers, des begeisterten Freiwilligen, des Zwangseingezogenen? Was hat er gedacht über das tägliche Morden?

Jetzt also ein "Nachruf". Im Zeitalter der Lenkflugkörper, der Killerdrohnen, des drohenden Aufkommens autonomer Kriegsroboter sei der Soldat eine Art aussterbende Gattung, so Schneider: "Der berühmte Satz ,Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin' hat seinen bösen Witz verloren: Es muss gar keiner ,hingehen', und Krieg ist doch."

Das ist ein dickes Buch, gespickt mit Fakten, Zahlen, Zitaten, das Werk eines belesenen und gebildeten alten Herren. Und dennoch geht es eigentlich nicht um diese Fakten, Zahlen, Zitate. Was Wolf Schneider hier vorgelegt hat, ist ein von Herzen kommender Protest gegen die Brutalität, Verrohung, Entmenschlichung der Menschen durch den Krieg. Schneider führt ihn auf atavistische Instinkte zurück: "Der Nachbar ist der Wolf, den es zu töten gilt." Belege finden sich genug, etwa Kleists Hassgesang auf die Franzosen von 1809:

"Alle Triften, alle Städte, / Färbt mit ihren Knochen weiß, / Welchen Rab' und Fuchs verschmähten, / Gebet ihn den Fischen preis! / (. . .) / Eine Treibjagd, wie wenn Schützen / Auf der Spur dem Wolfe sitzen! Schlagt ihn tot! Das Weltgericht / Fragt Euch nach den Gründen nicht!"

Der Mensch als des anderen Menschen Wolf: Niemals ist der Zivilisationsbruch tiefer gewesen als im Zweiten Weltkrieg, als Hitlers Deutschland jene systematisch ermordete, die es als "Untermenschen" ansah. Selbst damals aber gab es Soldaten, die an die offiziellen Begründungen glaubten, weshalb der Krieg notwendig sei - und sei es nur für den untauglichen Versuch, das eigene Gewissen zu beruhigen.

Das ist schon beeindruckend, wenn Schneider im Kapitel "Wofür sie starben" eine Systematik der Rechtfertigungen und Lügen aufstellt, die hinter so vielen Schlachten und Feldzügen stehen: Fürs Vaterland. Für die Religion. Für Raum und Rache. Für den Triumphator. Und so fort.

Gegengift zu kriegsverherrlichenden Werken

So schwer es fällt, zum Frieden zu finden, so leicht ist es, einen Grund für den Krieg zu finden: Das war für Napoleon in Russland 1812 nicht anders als für George W. Bush 2003 im Irak - oder für Russlands Präsidenten derzeit in der Ostukraine.

Schneiders Buch führt drastisch vor Augen, was Krieg bedeutet. Es ist ein sehr geeignetes Gegengift zu kriegsverherrlichenden Werken von gestern und heute, etwa - um ein Beispiel zu nennen - "American Sniper" von Chris Kyle. Der ehemalige US-Scharfschütze hatte im Irak mindestens 160 Menschen mit einem Präzisionsgewehr erschossen und darüber ein Buch geschrieben, das lange die US-Bestsellerlisten anführte und frösteln macht: Nicht nur wegen der exzessiven Gewalt, sondern auch, weil es ganz unabsichtlich die innerliche Verrohung eines anfangs gar nicht so rohen Menschen wiedergibt, von Kyle selbst, der darin ohne Scham vom Spaß beim Töten schreibt. Er starb, in trauriger Konsequenz, bei einem Streit auf einer Schießbahn in Texas durch die Kugeln eines anderen, traumatisierten Irak-Veteranen. Ausgerechnet Schneider, der scharfe Analytiker, überzeugt am meisten, wenn er, siehe oben, mit dem Herzen spricht, Wut und Abscheu zeigt.

Für einen Nachruf auf die Soldaten könnte es freilich etwas arg früh sein. So sehr man den Wunsch des Autors teilt, es möge keine Kriege mehr geben, so unwahrscheinlich bleibt dies doch. Würde die internationale Gemeinschaft - nur als Denkmodell - sich im UN-Sicherheitsrat doch einigen und in Syrien intervenieren, würde sie sehr viele Soldaten brauchen, um die Konfliktparteien zu entwaffnen und zu kontrollieren. Auf dem Balkan stehen Nato- und europäische Truppen seit anderthalb Jahrzehnten. Drohnen und elektronische Kriegführung könnten sie niemals ersetzen - gerade friedenssichernde Einsätze benötigen Zeit, einen langen Atem und viel Personal.

"Hitler suchte nichts im Westen"

Als "Weltgeschichte" hingegen bleibt das Werk etwas konturlos, gelegentlich gar widersprüchlich. Hunderte Seiten schildert Wolf Schneider das Grauen des Krieges, das Elend der Soldaten, ob sie für Hannibal gegen Rom oder für Stalin gegen Berlin zogen. Am Ende aber steht eine Absage an den Pazifismus, der, konsequent verwirklicht, das Recht dem Stärkeren überlassen würde, jenem, der sich nicht schert um Frieden und Moral: "Frieden ist nicht der Naturzustand des Menschen."

So ist das wohl, leider. Pazifismus, Blauhelme, einseitige Abrüstung: alles mehr oder weniger untaugliche Mittel, argumentiert Schneider. Ein Gewaltmonopol bei den UN? Aussichtslos, so der Autor, und auch nicht wünschenswert: Würde sie dann nicht selber die allmächtige Weltpolizei sein wollen?

Es gab zu allen Zeiten Formen der Aggression und der Gewalt, die nur durch Gegengewalt zu brechen waren, durch bewaffnete Notwehr: der Kampf der US-Nordstaaten gegen die Sklavenhalter des Südens 1861 bis 1865 gehört dazu; der verzweifelte Widerstand der spanischen Republik gegen die Faschisten in den Dreißigerjahren, und, natürlich, der Krieg gegen Hitlers Deutschland. Weder die Westeuropäer 1939 noch die Sowjetunion 1941 hatten eine Wahl: Die deutsche Seite wollte den Krieg, Hitlers Pläne für ein Imperium in Osteuropa hießen Völkermord und Entrechtung ganzer Nationen.

Als die Briten und Franzosen dies 1939 viel zu spät erkannten, als Österreich und die Tschechoslowakei schon verloren waren, drohten sie Deutschland für den Fall eines Angriffs auf Polen mit dem Krieg. Schneider wirft ihnen sogar zu Recht vor, anfangs viel zu passiv geblieben zu sein, dann gerät er aber auf sehr dünnes Eis: "Hitler suchte nichts im Westen." Ohne die Kriegserklärung durch Paris und London hätte er West- und vielleicht sogar Südeuropa nicht überfallen, heißt es hier: "Statt des Weltkriegs wäre ein Krieg zwischen Hitler und Stalin ausgebrochen, und Westeuropa hätte nur zuzusehen brauchen, wie die beiden ungeliebten Riesen einander zerfleischen."

Krieg gegen "ein neues dunkles Zeitalter"

Die Lösung wäre also gewesen, das Nazireich zur Weltmacht aufsteigen zu lassen? Nichts zu tun, die Polen im Stich zu lassen? Das ist wirklich sehr naiv, von den moralischen Fragen einmal abgesehen: Mit Hitlers Reich konnte es keinen Ausgleich geben, weil dessen Ideologie auf Dauer jeden Konsens ausschloss. Sie kannte keinen Frieden, nur Unterwerfung. Seit 1933 hatten die Westmächte es mit Beschwichtigung versucht, Jahr für Jahr verschlechterte sich ihre Position. Nur Hitlers Deutschland wurde immer mächtiger.

Mindestens ebenso bescheiden fällt Schneiders Analyse des Krieges im Pazifik aus, wo er die alte Verschwörungstheorie wiederholt, US-Präsident Roosevelt habe die Japaner zum Angriff auf Amerika 1941 provoziert, um endlich in den Krieg eintreten zu können: "ein Betrugsmanöver wahrscheinlich".

Diese These erzählt nichts Wirklichkeitsnahes über das Jahr 1941, aber sehr viel über die antiamerikanischen Vorurteile mancher, die den USA selbst dann noch das Übelste unterstellen, wenn diese die Welt von einem wirklichen Übel befreit haben.

In Wahrheit kämpfte die freie Welt damals einen Krieg, den sie nie hatte führen wollen und dann doch führen musste; um ihr schieres Überleben und gegen, wie es Winston Churchill formulierte, "ein neues dunkles Zeitalter". Es war ein Kampf, der die Welt rettete und der in diesem Buch mit ein paar Mutmaßungen über falsche oder erfundene Gründe für den Krieg gegen die Achsenmächte abgetan wird. Ohne die GIs in der Normandie aber, die Rotarmisten in Stalingrad 1942, die britischen Jagdpiloten über England 1940 hätte dieses dunkle Zeitalter womöglich sehr lange gedauert. Auch das hätte in eine Weltgeschichte des Soldaten gehört.

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