Nachrichten:Sensenmann im Sauseschritt

Die Menschen neigen dazu, sich die falschen Sorgen zu machen - und manchem Journalisten ist der Sinn für Proportionen abhandengekommen. Aktuelles Beispiel: die Schweinegrippe.

Wolf Schneider

Die Menschen neigen dazu, sich die falschen Sorgen zu machen: Was sie wirklich bedroht, ignorieren sie gern. Aber was die Gemüter bewegt, weil die Medien es ihnen als Katastrophe kredenzen - das erfüllt sie mit Panik.

Nachrichten: Wer ist schuld an der weltweiten Massenhysterie - die Schweinegrippe oder die Berichterstattung?

Wer ist schuld an der weltweiten Massenhysterie - die Schweinegrippe oder die Berichterstattung?

(Foto: Foto: dpa)

Die jüngste Hysterie scheint ja Gott sei Dank schon abzuklingen - aber sie bleibt ein höchst anschauliches Lehrbeispiel dafür, dass den meisten Nachrichtenredakteuren aller Sinn für Proportionen abhanden gekommen ist: die Schweinegrippe also.

Mexiko, 23. April: 473 Infektionen, die Schulen werden geschlossen, Zehntausende Mexikaner tragen Atemschutzmasken - obwohl die Weltgesundheitsorganisation dies keineswegs für die Öffentlichkeit empfohlen hatte, sondern nur für enge Räume. Und obwohl das Risiko der mehr als 100 Millionen Mexikaner, sich anzustecken, bei 1: 220 000 lag, wie die Süddeutsche Zeitung vorrechnete.

Gut, inzwischen sind 2500 Mexikaner infiziert, und 56 sind an der Schweinegrippe gestorben - aber auch keine sehr aufregende Zahl verglichen mit den mehr als 5000 Mexikanern, die 2008 von der einheimischen Drogen-Mafia ermordet worden sind.

Doch mit den Fernsehbildern der Maskierten lief das Unheil um die Welt. Der Sensenmann im Sauseschritt - welch willkommene Abwechslung nach den ewigen Nachrichten von Opel und von Wowereit!

Man hätte natürlich ebenso gut die 100 Millionen Mexikaner filmen können, die keinen Mundschutz trugen - aber wer will die sehen? Und die Bilder hätten ans Ende der "Tagesschau" gehört, als Kuriosum aus der Ferne; idealerweise um die kleine Recherche angereichert, dass die WHO dies übertrieben nannte.

Aber das hätte bedeutet, über etwas, was sich groß verkaufen lässt, angemessen, also klein zu berichten - und das mögen Nachrichtenredakteure nicht.

Die Agenturen, die Zeitungen zogen rasch nach, und so füllte die Schweinegrippe schon am 29. April, fünf Tage nach den ersten Bildern und bei genau drei Infektionen in Deutschland (inzwischen sind es zwölf) die ganze Sendung "Hart aber fair" - von Frank Plasberg durchaus fair geleitet, aber zugleich ein Forum, vor dem Zuschauer-Fragen verlesen wurden wie diese: Ob man in Deutschland eigentlich noch guten Gewissens tanzen und schmusen könne? Mein Gott!

Ein unbegreiflich schiefes Bild der Welt - gemalt von hysterischen Mexikanern, begeisterten Fernsehteams und in ihrem Schlepptau den Nachrichtenredakteuren in ihrer tristen Routine. Unsere Lust, uns die falschen Sorgen zu machen, wird von ihnen aufs Schönste befriedigt. They set the agenda, sie entscheiden, worüber wir uns aufregen sollen. Und von Berufs wegen malen sie die Welt schwärzer, als sie ist. Dies tun sie auf dreierlei Weise.

Zum Ersten natürlich dadurch, dass über tausend gelandete Flugzeuge niemals berichtet wird - sofort aber über das eine, das abgestürzt ist. Das ist ein journalistisches Grundgesetz; daran haben wir uns gewöhnt.

Mehr oder weniger bekannt ist auch das zweite Grundgesetz: Die Nachrichtenagenturen haben über die Erde ein so enges Netz gespannt, dass kein Vulkanausbruch auf Sumatra und kein Fährunglück auf dem Kongo ihnen entgeht. Unsere Großeltern wussten einfach weniger.

Zu diesen beiden halbwegs bekannten Gründen kommt ein dritter: Die "Tagesschau" muss ja mit irgendeiner Nachricht anfangen, und die muss irgendwie als aufregend präsentiert werden. Millionen Fernsehzuschauer werden sie bedeutsam finden - selbst wenn sie aufgeblasen oder einfach läppisch wäre.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie man ein Feuerchen zu einer Brandkatastrophe aufpustet.

Das Verbot, zu schweigen

Am Anfang steht das Verbot, zu schweigen. Die Medien unterhalten ja keinen Bereitschaftsdienst (wie die Feuerwehr, die nur ausrückt, wenn es brennt) - die Medien sind eine Produktionswerkstatt, sie haben einen festen Platz für den Großbrand des Tages freigeschlagen.

Wenn nun aber keiner ausbricht irgendwo auf der Welt - wenn nicht, wie 1989, der Fall der Mauer oder 2001 der Zusammenbruch des World Trade Center das Aufmacher-Problem auf Monate löst und alle drittklassigen Nachrichten verscheucht: Dann suchen die Nachrichtenredaktionen nach einem Feuerchen, das sich zur Brandkatastrophe aufpusten lässt.

Wir haben uns umsonst gefürchtet

Beispiel Schweinegrippe: Nach dem Stand der ersten Mai-Woche waren knapp 6000 Erdenbürger infiziert - 61 sind daran gestorben: eine Sterbequote von einem Prozent! (So harmlos ist die Grippe nicht immer).

Von den 61 Toten entfallen 56 auf Mexiko, 5 auf das übrige Amerika; in Europa ist keiner an ihr gestorben. In seine Schweinegrippen-Sendung blendete Frank Plasberg vorbildlich dreimal ein: "Die Katastrophe ist ausgeblieben. Wir haben uns umsonst gefürchtet." Dreimal eingeblendet: für die Vogelgrippe, für den Rinderwahnsinn und auch noch für die kurze SARS-Panik von 2003.

Natürlich steht nun groß die Frage vor uns auf: Was sollen wir denn aufmachen an den tauben 60 Tagen - wenn doch BSE, Gammelfleisch und Vogelgrippe nur aufgeblasene Lückenbüßer waren - Brent Spar und das Waldsterben parteiliche Überreizungen ?

Da traue ich mir die These zu: Der Aufmacher, wie er in unseren großen Zeitungen dominiert, ist ohnehin ziemlich oft ein Ärgernis - nämlich das Produkt zweier Zwangsvorstellungen.

Erstens: "Der Aufmacher muss aus einer Nachricht bestehen". Zweitens: "Die Nachricht braucht nicht den geringsten Neuigkeitswert zu haben - Hauptsache, wir bleiben bei unserer Routine."

Da wird also am 22. November 2005 kurz vor Mitternacht Angela Merkel zur Kanzlerin gewählt. Der Anteil der Deutschen, die das wussten, als sie schlafen gingen, muss nahe bei 100 Prozent gelegen haben. Und wie hießen die Schlagzeilen der großen Zeitungen, zwölf Stunden nach der "Tagesschau", 20 Stunden nach der Wahl?

In der FAZ: "Angela Merkel Bundeskanzlerin". In der Süddeutschen die Variante: "Angela Merkel ist Kanzlerin". In der Welt: "... als Kanzlerin vereidigt". In der Frankfurter Rundschau: "... die erste Bundeskanzlerin".

Trostlose Blamage

In den vier renommiertesten Blättern also jedes Mal die arrogante und lächerliche Pose dessen, der etwas Neues zu verkünden behauptet - eine Selbstentmündigung der Institution "Tageszeitung"! Leute, das war alles von gestern! Drei Wege hätte es gegeben, dieser trostlosen Blamage zu entgehen:

Erstens, die kleine Lösung: Wenn wir schon nichts anderes haben, dann vermeiden wir wenigstens sprachlich die Pose des Verkünders, wir wählen andere Wörter: "Wie Angela Merkel gewählt wurde".

Zweitens, die mittlere Lösung: Wir ziehen aus der Bundestagssitzung ein farbiges Detail nach oben - zum Beispiel den Satz des Bundestagspräsidenten: "Ein starkes Signal für viele Frauen".

Drittens, die große Lösung: Uns ist schon Wochen vorher eingefallen - aufgefallen, dass solche Zeitabläufe uns vor Probleme stellen. Also beschließen wir, aus der Biographie der Angela Merkel und ihren Wahlversprechungen einen analytischen Text zu zimmern, der es uns erlaubt, am Tag nach der Wahl mit der Schlagzeile aufzumachen: "Was wir von Angela Merkel zu erwarten haben" - die Wahl selbst in der Unterzeile, das Ergebnis in einem fetten Kasten, der Ablauf der Bundestagssitzung weiter unten.

Tiefpunkt der traurigen Gesinnung

Einen Tiefpunkt dieser traurigen Gesinnung (einen, der es verdient, in Lehrbüchern des Journalismus ausgeleuchtet zu werden) leistete sich die Süddeutsche Zeitung am 5. März 2005. (Wenn ich immer wieder auf die Süddeutsche losgehe, so einfach deshalb, weil ich erstens zehn Jahre bei ihr war und sie zweitens seit 60 Jahren immer lese; wo sie also sündigt, entgeht mir nichts.)

"Horst Köhler soll Bundespräsident werden" hieß der Aufmacher an diesem 5. März 2005. Heute klingt das unauffällig. Aber wer die Nachricht, die Reportage, den Leitartikel dazu las, musste sich wundern - aus drei Gründen.

Erster Grund: Die Nachricht war (mal wieder) zwanzig Stunden alt. Mindestens nach der "Tagesschau" zwölf Stunden zuvor wussten das also sicher an die 90 Prozent der Morgenleser. Auch die Aussage der Unterzeile - "Scharfe Kritik aus der CDU an Parteichefin Merkel" - war den meisten längst bekannt.

Zweiter Grund: Schon der Lauftext des Aufmachers enthielt, wenn auch erst in der vierten Spalte, eine viel interessantere Nachricht: Das CDU-Präsidium hatte für Klaus Töpfer und Annette Schavan gekämpft - Köhler war dritte Wahl! "Weit abgeschlagen" übrigens, erfuhr der Leser in derselben Ausgabe auf der berühmten Seite Drei.

Dritter Einwand: Und auf dieser Seite 3 war die Hölle los! Machtkampf in der CDU - "Szenen aus einem Irrenhaus" in der Präsidiumssitzung - Putschversuch gegen Merkel - Verrat an Schäuble! Und auf Seite Vier, im Leitartikel: "Angela Merkel hat sich in rücksichtsloser und zynischer Manier durchgesetzt"; "schäbig, unehrlich und gemein" hat sie den "ihr intellektuell überlegenen" Wolfgang Schäuble behandelt; "ein widerwärtiges Bild" hat sie abgegeben.

Lesen Sie weiter auf Seite 3, welche Heiligen Kühe geschlachtet gehören.

Womit sollen wir aufmachen?

Bleibt noch die andere Zwangsvorstellung zu betrachten: dass der Aufmacher unbedingt aus einer Nachricht bestehen muss. Zu dem schlimmen Nachteil, dass er dann oft nur die "Tagesschau" vom Vorabend wiederholt, kommen ja zwei weitere: Wenn weder große Dinge passieren, noch ein Wahnsinn sich hochjubeln lässt, bleiben immer noch zwei Arten von Schlagzeilen, die nicht sein müssten und vielleicht nicht sein sollten: die läppischen und die irreführenden.

De facto irreführend sind tendenziell alle Wahlreden. Es muss doch nicht bewiesen werden, dass die Taten der großen Koalition mit den Versprechungen von CDU und SPD im Wahlkampf wenig gemein haben.

Politische Lügen und Irreführungen

Was Nachrichtenredakteure in redlicher Absicht verbreiten, sind großenteils politische Lügen oder Irreführungen. Je weniger sie davon drucken, desto höher steigt also der Wahrheitsgehalt der Zeitung. Eine gute Faustregel könnte lauten: Nie sollten wir einer Wahlrede die Ehre erweisen, sie aufzumachen.

Das spitzt die Frage noch einmal zu: Wenn drei Arten von Nachrichten möglichst nicht zu Schlagzeilen werden sollten - die läppischen, die künstlich aufgeblasenen und die mutmaßlich lügenhaltigen: Womit, um Gotteswillen, sollen wir aufmachen?

Am besten mit dem Besten, was wir haben. Man müsste freilich ein paar Heilige Kühe schlachten - nämlich die Struktur der folgenden Seiten notfalls zertrümmern.

Der interessanteste Text der Süddeutschen stand am 25. April für mein Gefühl auf Seite Vier: der Dreispalter "Der Sport hat den Kampf gegen das Doping verloren" - ein fulminanter Abgesang auf eine riesige und offenbar hoffnungslose Debatte.

Am 30. April stand der beste Text auf Seite Zwei: "Verschätzt in jeder Hinsicht / Warum die Finanz- und Wirtschaftskrise ihre verheerende Wirkung erst in ein oder zwei Jahren entfalten wird". Das war eine klassische Analyse - und folglich das Beste, womit eine Zeitung im Fernseh- und Online-Zeitalter aufmachen kann. Dass die Seite Drei der Süddeutschen oft dramatisch besser ist als der Aufmacher, ja ihn geradezu korrigiert, habe ich anschaulich zu machen versucht.

Warum Sie sich über die Schweinegrippe nicht aufzuregen brauchen

Verwirrt es denn die Leser nicht, wenn sie im eigenen Blatt erst auf der letzten Seite finden, was die anderen täglich auf der ersten hinausschreien? Ja, das könnte zum Problem werden. Aber es wäre lösbar, und das mit großer Eleganz.

Sehr leicht zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung mit ihrer schönen Einrichtung eines vierspaltigen Kastens mitten auf der Seite Eins. Das ist ein perfekter Platz für Themen, denen die Redaktion einen gewissen Rang abseits des Nachrichtenrummels zuerkennt. Dieser Kasten könnte, nach den ersten aufgeregten Schlagzeilen anderer Zeitungen, zum Beispiel die Überschrift tragen: "Warum Sie sich über die Schweinegrippe nicht aufzuregen brauchen."

Nicht jeder Unfug darf durch

Das also mein Vorschlag für den Kasten auf Seite Eins. Was man vielleicht nicht drucken kann, aber als Journalist im Hinterkopf haben sollte: Die Massenpanik hat jenem Schweizer Pharma-Konzern, der das Grippemittel Tamiflu herstellt, einen Milliarden-Gewinn verschafft, und unter Schweizer Kollegen läuft der Verdacht um, der Konzern könnte die Panikmache durch die Journalisten sogar ein bisschen gefördert haben.

Das Internet trug das Seine zu der Panik bei: In ihm "wütete die Schweinegrippe noch stärker als in den klassischen Medien" schrieb die Berliner Zeitung. Die Blogger und die Twitter taten das Ihrige, um das vordergründig Aufregende aufgeregt, ungeprüft und aufgeblasen zu verbreiten.

Ja, da waren, da sind die Journalisten gefragt in ihrer klassischen Rolle als Schleusenwärter, gate keeper, dazu da, nicht jeden Unfug passieren zu lassen! Die Printjournalisten noch mehr als die Online-Redakteure - denn die können gar nicht umhin, vor allem auf Schnelligkeit zu setzen. In der Zeitung ist mehr Zeit, zu stutzen, zu reflektieren, einzuordnen. Nutzt sie, Kollegen!

Nur dadurch bekommt die Gesellschaft die Chance, über die wirklichen Zustände und Nöte auf der Erde fair informiert zu werden und in den angemessenen Proportionen.

So, und nur so, haben die Zeitungen überdies die Chance, zu überleben. Heute gilt leider noch der schlimme Satz von Peter Sloterdijk: "Journalisten sind Facharbeiter für falschen Alarm."

Der Text ist eine gekürzte Fassung des Vortrags des Autors Wolf Schneider, ehemals Chefredakteur der Welt, Journalisten-Ausbilder und Träger des "Medienpreises für Sprachkultur", auf dem Süddeutschen Journalistentag.

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