Nachrichten aus dem Netz:Nutzer sind Imitate

Die Grenzen zwischen dem Computer als Mittel zur Selbstrepräsentation und dem Computer als Erweiterung des Selbst werden schwammig. Bislang hat die Technik ihren Nutzer nur studiert. Bald wird sie ihn nachahmen.

Von MICHAEL MOORSTEDT

Es wird um die Jahrtausendwende gewesen sein, als die Menschen einen Vorgeschmack auf die Zukunft erhielten. Damals führte der Hersteller Nokia in seiner neuen Handy-Generation die Möglichkeit ein, vorgefertigte SMS zu verschicken. "Kann gerade nicht, bin im Meeting" oder "Komme 15 Minuten später", konnte man auswählen. Es waren Minimal-Kommuniqués für die, die damals schon ein Mobiltelefon hatten. Vom Empfänger aber wurden sie nicht selten als unpersönlich bis beleidigend empfunden - niemand nimmt sich mehr die Zeit für eine persönliche Nachricht, hieß es dann.

Heutzutage ist man da weiter. Ende Mai stellte Google sein neues Messenger-Programm Allo vor. Dessen "Smart Reply"-Funktion soll dazu dienen, in einem Chat-Gespräch unterschiedliche Reaktionen automatisch zu verfassen. Statt selbst zu tippen und selbst zu formulieren, muss der Nutzer nur noch auf die ihm genehme Antwort klicken. Die Antworten, verspricht Google, seien "in your style". Sie sollen so klingen, als habe der Nutzer sie selber geschrieben. Allo werde Konversationen "leichter, produktiver und ausdrucksvoller" machen, schreiben die Entwickler.

In seinen Anstrengungen ist Google nicht allein. Von "autonomous self-agents" spricht das dänische Start-up Doliio, das bald eine ähnliche App anbieten will. Für 15 Dollar im Monat könne man seine Social-Media-Aktivitäten einem Computerprogramm auftragen, das dann auf Facebook, Instagram und so weiter in die Rolle des Benutzers schlüpft.

Doliio verspricht seinen Kunden, sie von der Klick-Arbeit befreien, die man leisten muss, wenn man sich im Netz eine Ego-Marke aufbauen will. Tests fielen scheinbar vielversprechend aus: Die Software sagt anhand der Kalendereinträge Veranstaltungen zu oder ab, verteilt Gefällt-mir-Angaben und gratuliert Freunden zum Geburtstag. Am Ende jedes Tages schickt das Programm einen Rechenschaftsbericht an den Nutzer. Ist das die Zukunft? Maschinen, die mit Maschinen sprechen, damit die Menschen endlich wieder Zeit für das Wesentliche haben?

Ganz ohne "ja, aber" kommt diese Zukunftsvision nicht aus. Schließlich wird die magische App angetrieben von selbstlernenden Algorithmen, die den kompletten Gesprächsverlauf ihrer Nutzer analysieren. Datenschützer warnen bereits vor den möglichen Folgen. Was wäre, wenn die Anbieter ihre Erkenntnisse über die Anwender dazu nutzen würden, Werbebotschaften an deren sprachliche Muster anzupassen? Schon bald könnte jede Marke so daherreden wie der beste Freund.

Interessanter als die Warnung vor Privatsphäre-Erosion ist die Erkenntnis, dass die Grenzen zwischen dem Computer als Mittel zur Selbstrepräsentation und dem Computer als Erweiterung des Selbst schwammig werden. Bislang hat die Technik ihren Nutzer nur studiert. Bald soll sie ihn imitieren.

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