Nachrichten aus dem Netz:Dem Dichter über die Schulter klicken

Joshua Cohen ließ sich dabei zuschauen, wie er eine Novelle verfasste. Er wollte "dem Zeitgeist die Kunst geben, die er verdient". In Zeiten von Periscope ist das nur konsequent.

Von Michael Moorstedt

Was macht das Netz eigentlich mit uns? Gerade der literarische Betrieb blieb bei dieser Frage ja lange erstaunlich eindimensional: Schlecht und schlimm gehe es dem Menschen, sobald er den Web-Browser startet. Wie soll man diesen Zustand aber auch adäquat zu Papier bringen? Dieses Gefühl nervöser Fragmentierung, das einen manchmal umfängt, wenn nach 15-minütiger Internet-Séance schon wieder drei Dutzend geöffnete Tabs um die Aufmerksamkeit buhlen.

Dem jungen New Yorker Schriftsteller Joshua Cohen ist das erstaunlich gut gelungen. Manche sagen sogar, er habe mit seinem - auf Deutsch noch unveröffentlichten - Buch "Book of Numbers" den ersten echten Internetroman geschrieben. Zwar hat auch er einen Steve-Jobs-Wiedergänger und ein Google-Pendant im Portfolio, doch der Roman ist nicht so uninformiert pessimistisch wie etwa Dave Eggers' "Der Circle" oder auch Jonathan Franzens "Unschuld". Deshalb lobt die New York Times das Buch auch als "hörbare Manifestation des Netz-Traffics", als "Ulysses des digitalen Zeitalters".

Wie um diesen Ruf zu bekräftigen, hat Cohen in der vergangenen Woche ein interessantes Experiment gewagt. Eine live geschriebene Novelle im Netz. Fünf Tage lang, fünf Stunden pro Tag. Das ist nur konsequent, schließlich kann heutzutage jeder Nutzer live ins Internet senden. Man kann Menschen in Echtzeit dabei zusehen, wie sie programmieren (watchpeoplecode.com), Computerspiele spielen (twitch.tv) oder eben den ganzen Rest erledigen (periscope.tv).

PCKWCK hat Cohen sein Experiment genannt, in Anlehnung an Charles Dickens' Fortsetzungsroman "Die Pickwickier". Anders als im Vorbild geht es bei Cohen aber nicht um die Kapriolen von liebenswürdigen Gentlemen mit Alkoholproblem, sondern um eine düstere, verworrene Geschichte rund um Geheimdienste, Folter und Überwachung.

Auf der linken Seite des Bildschirms war das Livebild einer Webcam eingeblendet, die den Autor beim Schaffen zeigte. Alle paar Sekunden wurde der Video-Feed aktualisiert. Mal blickte er ratlos, selten entschlossen. Er stützte den schweren Kopf auf die Hände, eine Zigarette zwischen die trockenen Lippen geklemmt. Man konnte den blinkenden Cursor sehen und nachverfolgen, wie Cohens Gedanken ins Web tröpfelten und dann doch wieder ganze Absätze blockweise an eine andere Stelle verschoben oder gelöscht wurden. Den Live-Lesern stand bei alldem das im Netz übliche Aktions-Repertoire zur Verfügung. Sie konnten Passagen, die sie für besonders gelungen hielten, liken, und Cohens Fortschritt in einem Chatfenster live kommentieren. Auf pckwck.com kann man das Ergebnis nun auch nach der Fertigstellung noch lesen.

Man solle "dem Zeitgeist die Kunst geben, die er verdient", sagt Cohen selbst. Doch weil das Leben halt doch nicht anders kann, als die Kunst immer wieder zu imitieren, hatte der Autor auch mit den eher lästigen Ausprägungen des Internet zu kämpfen. Kurze Zeit, nachdem die Website Buzzfeed sein Projekt vorgestellt hatte, strömte eine Flut von Trollen in das Chatfenster.

Zu jeder Zeit waren etwa 150 Leser zugeschaltet. Einige beleidigten ihn, andere spornten ihn an. Viele sagten, dass sie nichts von alldem, was da unter ihren Augen entstand, verstehen würden, woraufhin ein besonders versierter Besucher mit poststrukturalistischen Literaturtheorien aufwartete. Einer jedoch hat das Wesen des Internetnutzers am treffendsten zusammengefasst. Er schrieb: "Mir ist langweilig."

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