Nachkriegskunst:Schlitzen und weben

Rosso

Alighiero Boettis "La primavera dell'anno 1990" soll bis zu 1,6 Millionen Pfund kosten.

(Foto: Sotheby's, VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Deutsche Zero-Künstler werden zur Zeit als Pioniere gefeiert. Dabei waren ihnen ihre italienischen Kollegen um Jahre voraus. Der Markt hat das längst verstanden.

Von Ulrich Clewing

Als Gruppe nannten sie sich Zero, weil sie den Nullpunkt suchten. Einen Neuanfang. Eine Kunst ohne Tradition, frei von den Lehren der Akademie. Eine Malerei ohne Bildraum, ohne Perspektive, ohne Inhalte und Botschaften. "Die erste, letzte und beste Bedeutung, die einer Farbe zukommen kann, ist die, dass sie ihre eminente bildnerische Funktion rein erfüllt; allein dadurch gewinnt sie ihre Freiheit, ihre größte Intensität: die Farbe ist bei sich", schrieb der Düsseldorfer Maler und Bildhauer Heinz Mack 1958 in seinem Aufsatz "Die neue dynamische Struktur". Und sein Freund und Ateliernachbar Otto Piene assistierte: "Das Licht macht die Kraft und den Zauber des Bildes, seinen Reichtum, seine Beredtheit, seine Sinnlichkeit, seine Schönheit aus."

Diese goldenen Worte, notiert von einem 30-Jährigen, betören heute internationale Sammler wie nie zuvor. Zero, dieser lose Zusammenschluss von zeitweilig über 1000 Künstlern - und einigen wenigen Künstlerinnen - aus ganz Europa, die in den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren eine Revolution anzettelten, ist die Marktentdeckung der letzten zehn Jahre.

Italien war nach 1945 das eigentliche europäische Zentrum der Avantgarde

Piene traktierte Leinwände mit Feuer. Das bevorzugte Arbeitsmaterial von Günther Uecker war der Zimmermannsnagel, das von Mack Silberfolie. Andere Künstler der Zero-Gruppe, die auch in Belgien, den Niederlanden und Frankreich besonders stark war, wandten sich der kinetischen Kunst zu. In Japan existierte mit Gutai eine Parallelbewegung, die Freiluftausstellungen abhielt und Performances organisierte.

Nur in Italien, heißt es dazu regelmäßig in der einschlägigen Literatur, sei die Lage etwas unübersichtlich gewesen. Dort hätten sich Untergruppen so schnell aufgelöst wie sie sich gebildet hatten, seien die Theorien und Zugehörigkeiten unklar gewesen.

Das ist eine Lesart der Geschichte. Eine andere Interpretation kann man seit einigen Jahren in einer Einrichtung wie dem Museo del 900 am Mailänder Dom besichtigen. Folgt man ihr, wofür es gute Gründe gibt, dann entscheidet sich alles an der Frage der Chronologie: In Italien waren die Künstler (und wenigen Künstlerinnen) einfach zehn Jahre früher dran. Die Diskussionen, Stilbrüche und Neuanfänge, die Mack und Piene für sich reklamierten, hatten hier schon direkt nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden, nicht erst in den späten Fünfzigern.

Von Lucio Fontana, der mit seinen vertikal aufgeschlitzten Leinwänden berühmt wurde, sind Arbeiten aus den Vierzigerjahren bekannt, für die er Leinwände mit spitzen Gegenständen, Holzplatten mit Bohrern perforierte - so wie es Otto Piene mit Lackfarbe und Streichhölzern tat, das nur deutlich später. Eine Künstlerin wie die 1937 in Mailand geborene Grazia Varisco, über die man in Deutschland immer noch viel zu wenig weiß, trat bereits um 1960 mit kinetischen Werken hervor, für deren Entsprechung die Zero-Künstler ebenfalls noch ein paar Jahre Bedenkzeit brauchten.

Italien, dieses unwahrscheinliche, weil von Faschismus und Nationalsozialismus doppelt geschändete Land, war in den Jahrzehnten nach 1945 das eigentliche europäische Zentrum der Avantgarde. Dies galt auch für jene Art von Kunst, die ihre Popularität bis heute bereits im Namen trägt: die Pop-Art. Deren gefeierte Ankunft in Europa ereignete sich nicht etwa auf der Documenta in Kassel, die schon damals gern und ein bisschen unbescheiden für sich in Anspruch nahm, die Weltausstellung des aktuellen Kunstgeschehens zu sein.

Die Pop-Art erlebte ihren Triumph 1964 auf der Biennale von Venedig, als Robert Rauschenberg den Großen Preis für Malerei erhielt. Danach war für eine ganze Künstler-Generation in Italien nichts mehr wie zuvor. In Kassel dagegen brauchte man noch ein paar Jahre. Dort erfuhr die Pop-Art erst 1968 Anerkennung.

Dem Markt, der sich wieder einmal als der wahre Seismograf der Kunst erweist, ist das natürlich nicht entgangen. Auf Auktionen sind die Italiener sehr gefragt und erzielen zuverlässig Preise über der oberen Schätzung. Manche, wie Lucio Fontana oder Alberto Burri, knacken spielend die Millionengrenze. Wenn Sotheby's am 7. Oktober in London seinen nächsten "Italian Sale" abhält, ist Burri mit seinem Werk "Rosso Plastica 5" aus dem Jahr 1962 mit vier bis sechs Millionen Pfund gelistet. Eine große, wie ein Teppich gewobene Weltkarte von Alighiero Boetti wird auf 1,2 bis 1,6 Millionen Pfund geschätzt. Und für Enrico Castellanis "Superficie Bianca" von 1980 sind, wenn es nach Sotheby's geht, bis zu 1,5 Millionen Pfund fällig.

1999 versteigerte Sotheby's erstmals moderne und zeitgenössische italienische Kunst in einer eigenen Auktion. Der Umsatz betrug damals 5,2 Millionen Pfund. Ein Rekord, der schon bald verblassen sollte. "Bei unserem letzten Italian Sale haben wir über 40 Millionen Pfund umgesetzt", sagt Bastienne Leuthe, Senior Director bei Sotheby's. "Diese Zahlen zeigen, wie drastisch sich dieser Markt in den vergangenen zwanzig Jahren verändert hat."

Leuthe, die auch das Contemporary Art Department in Deutschland leitet, erklärt das so: "Man spürt bei den italienischen Künstlern die Kraft und Kreativität des radikalen Neuanfangs. Diese völlige Abkehr von den klassischen Kunststilen und das Experimentieren mit neuen Materialien und Ausdrucksformen erzeugt für viele einen faszinierenden Reiz."

Dass die Kunst nach 1945 aus Italien vor allem auf dem für die hohen Preise so entscheidenden angelsächsischen Markt erfolgreich ist, hat Tradition - und war von Beginn an eng mit den Biografien einzelner prominenter Kunsthändler verknüpft.

Der New Yorker Galerist Leo Castelli stammte aus Triest. Oft verbrachte er Monate in Italien

Leo Castelli, ab 1950 drei Jahrzehnte lang einer der maßgeblichen New Yorker Galeristen, stammte ursprünglich aus Triest. Er und seine Frau Ileana Sonnabend, eine gebürtige Rumänin, besuchten Italien in den Fünfzigerjahren regelmäßig und blieben manchmal monatelang.

Sonnabend, die nach ihrer Trennung von Castelli selber enorm einflussreich wurde, lebte mit ihrem zweiten Mann Michael Sonnabend ab 1965 in Venedig. Von dort aus plante sie eine Kooperation mit dem römischen Avantgarde-Galeristen Plinio de Martiis (die allerdings nie zustande kam). Dessen Tartaruga-Galerie war der Anlaufpunkt für die jungen Künstlerinnen und Künstler Roms, die man die Maler vom Café Rosati nannte, weil sie die Angewohntheit hatten, sich in der gleichnamigen Bar an der nahe gelegenen Piazza del Popolo zu treffen.

Durch solche persönlichen Bekanntschaften blieb die italienische Szene über viele Jahre und Jahrzehnte direkt mit der neuen Welthauptstadt der Kunst New York verbunden. Informationen flossen, Sammler flogen über den Atlantik hin und her. Italiener kauften früher als andere amerikanische Pop-Art, und die Wohlhabenden von der Ostküste interessierten sich verstärkt für das Geschehen in Mailand, Rom und Neapel. Von der gegenseitigen Wertschätzung zur heutigen Wertschöpfung war es da nur noch ein kleiner Schritt. Und an dem Punkt ist diese Geschichte auch im Hinblick auf die deutschen Zero-Künstler von Belang: Was die Preise für Mack, Piene und all die anderen betrifft, ist durchaus noch Luft nach oben.

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