Mythos Harlem:Jazzkultur als Einstiegsdroge

Ein Besuch im mythischen Harlem: Seit jeher prägt das Gemisch aus Musik, Gangstertum, Armut, Genie und Wahnsinn die "schwarze Welthauptstadt". Von Jonathan Fischer. Mit Bildern.

16 Bilder

Ein Deli in Harlem 2006

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Es riecht nach Räucherstäbchen, Mangoseife und gegrillten Fleischspießchen. "Three for ten!", schreit sich ein Verkäufer von raubkopierten CDs heiser und zieht die Kapuze seines Sweaters tief ins Gesicht. Gegenüber flechten zwei schwarze Frauen in afrikanischer Tracht an den Zöpfchen einer Kundin. Die Gehsteige in der 125sten Straße von Harlem gehören immer noch den Straßenhändlern - allen gegenteiligen Bemühungen Rudolph Giulianis zum Trotz.

Deli in Harlem/ Foto: ap

Disney New York

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Am 17. Oktober 1994, kurz nachdem Harlem zur "empowerment zone" erklärt worden war, hatte der damalige Bürgermeister New Yorks 400 Polizisten in Kampfausrüstung zur Räumung der Straßenstände nach Harlem entsandt. Es war kein Zufall, dass diese militärische Aktion mit der Initiative zusammenfiel, große Ketten wie GAP, Disney und Starbucks in das noch immer von vernagelten Hausruinen geprägte Stadtviertel zu locken.

Disney Store New York/ Foto: Reuters

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Im Grunde war sie ein Nebenprodukt von Giulianis "war on drugs".

Foto: istock

Mädchen in Spanish Harlem, New York

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Um den Boden für neue Investoren zu bereiten, musste auch all der halbgesetzliche Morast verschwinden, von dem die Stadtoberen glaubten, er habe nicht nur die Crack-Epidemie der 80er, sondern auch ein knappes Jahrhundert Gangsterherrschaft begünstigt.

Harlem/ Foto: afp

55 West 125th, Harlem, New York

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Ganz falsch lagen sie nicht: Glücksspiel, Jazz, die intellektuelle Elite und die Imperien von Drogenbaronen wie Frank Lucas und Nicky Barnes blühten in Harlem stets am selben Ast, zuweilen in Symbiose. Sie förderten sowohl die kreativsten als auch die destruktivsten Kräfte afroamerikanischer Ghetto-Kultur zutage. Wenn heute allerdings die Filmplakate zu "American Gangster" die Bauzäune an der Lenox Avenue schmücken, dann mutet die Geschichte von Drogensupermärkten, Shootouts auf den Straßen und Rolls Royce fahrenden Analphabeten fast surreal an: Die Gegend ist heute kaum gefährlicher als der Rest Manhattans.

Harlem 125th Street/ Foto: Reuters

Szenenbild aus "Shaft"

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Wo aber ist das mythische Harlem von "American Gangster" geblieben? In der 125sten Straße, gleich um die Ecke vom Apollo-Theater, führt eine schmale Treppe hinauf in die Vergangenheit: Hier, im Neonlicht eines fensterlosen Hinterzimmers im ersten Stock, stapeln sich die Reliquien einer gewaltbesessenen Geschichte. "Hell Up In Harlem", "Black Cesar", "Shaft", "Superfly", "Paid In Full" - schwarz kopierte Blaxploitation-Filme, die alle eines gemeinsam haben: die Straßen Harlems als Kulisse für bewaffnete Gangster, korrupte Polizisten und mit dicken Havannas einherstolzierenden Ghettokönigen samt Gespielinnen. Sex and Crime: Harlem inspirierte die Phantasie von Drehbuchautoren wie kein anderer Großstadtflecken Amerikas.

Szenenbild aus "Shaft"/ Foto: ap

Kunstwerk von Romare Bearden "'Profile/Part II, The Thirties: Uptown Sunday Night Session"

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Was die Filme meist nicht zeigen: Wie eng Harlems Ökonomie, seine weltberühmte Jazz-Kultur, mit dem Wirken der Gangster zusammenhing. Wenn Frank Lucas in "American Gangster" seine Geschäfte hinter der Fassade eines honorigen Jazz-Clubs betreibt, offenbart das nur die Spitze des Eisbergs.

Romare Bearden "Profile/Part II, The Thirties: Uptown Sunday Night Session" Foto: ap

Duke Ellington 1958

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Das Asoziale verband sich nur allzu gern mit der hohen Kultur: Duke Ellington und Cab Calloway wurden erst unter der Patronage der Mafia ...

Duke Ellington/ Foto: Getty Images

George C. Wolfes "Harlem Song" in Harlems historischem Apollo Theater in New York 2002

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... und Lokale wie dem Cotton Club berühmt, viele der Unterwelt-Bosse betätigten sich nebenher als soziale Wohltäter und Förderer lokaler Kultur.

George C. Wolfes "Harlem Song" im Apollo Theater in Harlem 2002/ Foto: ap

Filmszene "Hoodlum" mit Laurence Fishburne und Andy Garcia

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Wie etwa der aus der Karibik stammende Nummern-Lotto-König Caspar Holstein: In den 20er Jahren empfing er Senatoren, Kongressmänner, Musiker und Schriftsteller. Und wurde dank seiner großzügigen Stipendien von Langston Hughes als "Geburtshelfer" der so genannten "New Negro Literature" bezeichnet. Oder der Renaissance-Gangster Bumpy Johnson, der in den 50er Jahren öffentliche Weihnachtsbankette ausrichtete, Shakespeare rezitierte, nationalistische Gedichte schrieb und in Harlem bis heute als "schwarzer Robin Hood" verehrt wird.

Ironischerweise kam ihm dabei das aus der Bürgerrechtsbewegung entsprungene neue Selbstbewusstsein Harlems zu Hilfe: Schon seit der großen Depression Mitte der 30er Jahre hatte der Stadtteil als Amusement-Park für Weiße ausgedient. Die Talfahrt setzte sich nach dem zweiten Weltkrieg fort. Verarmte Afroamerikaner vom Land strömten nach Harlem, wo die Wohn- und Lebensbedingungen schlechter waren als je zuvor - und nur der Heroinhandel blühte. "Es war eine Plage", schreibt Claude Brown in seiner Biographie "Manchild In A Promised Land". "Überall auf der Straße sprach dich jemand an: 'Willst du was kaufen?', 'Lass uns zusammen high werden'. Das geschah so selbstverständlich, wie es in einem anderen Stadtviertel heißen würde: 'Lass uns auf einen Drink gehen!'". Geschätzte 100 000 Junkies lebten in Harlem. Ihr Drogengeld landete in der Hand der italienischen Mafia, die geschätzte 95 Prozent des Heroinimports nach New York kontrollierte.

Szenenbild aus "Hoodlum"/ Foto: TM3

Frank Lucas, Vorbild des Films "American Gangster"

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Typen wie Frank Lucas sahen Harlem deshalb als Kolonie: Schwarze Gangster arbeiteten hier bislang nur als Mittelsmänner der Cosa Nostra. Warum nicht dem weißen Mann sein Hauptgeschäft streitig machen? So wuchs in den 70er Jahren mit Frank Matthews, Nicky Barnes und Frank Lucas eine Troika schwarzer Drogenbosse heran, die der Cosa Nostra die Stirn boten, über Fahrzeugflotten und Privatarmeen verfügten und zahlreiche Popsongs und Filme inspirierten.

Frank Lucas/ Foto: ap

Black Panthers 1969

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Matthews wurde bereits 1973 in "Black Cesar" verewigt. Nicky Barnes' Geschichte ist der Angelpunkt des von dem Hip-Hop-Mogul Damon Dash geschriebenen Doku-Dramas "Mr. Untouchable" - und kommt in Amerika gleichzeitig mit "American Gangster" in die Kinos. Doch was bedeutet die filmische Verklärung der Drogenbosse für die afroamerikanische Community? Immerhin hatten Black Panther, Black Muslims und einige Rastafaris in den 70er Jahren deren Imperium aus moralischen Gründen bekämpft, Drogendealer in Selbstjustiz ausgeraubt oder erschossen. Ein schwarzer Nationalist, der das Elend der durch Heroin zerstörten Familien nicht mehr sehen konnte, war als Undercover-Agent maßgeblich an der Verhaftung von Barnes beteiligt. Warum gelten diese Dealer trotzdem als Ghetto-Heilige?

Black Panthers 1969/ Foto: afp

Flugblatt gegen Rassenunruhen in Harlem, 1935

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Es waren wohl die seit Jahrzehnten erlittene Polizeigewalt und Korruption, das Desinteresse des weißen Establishments am sozialen Verfall in Harlem, das diese Männer in den Augen vieler Afroamerikaner dennoch zu Helden machte. Zu scheinbar unbesiegbaren schwarzen Trickstern: Dreizehn Mal war der mit Hermelinmänteln, Designerbrillen und Luxusautomodellen durch Harlem paradierende Barnes verhaftet worden - und jedes Mal musste die Justiz ihn laufen lassen. Die entscheidenden Zeugen waren plötzlich verschwunden. Bis US-Präsident Jimmy Carter den Mann auf dem Titel des New York Times Magazine entdeckte - und alle Hebel in Bewegung setzte, um die Überschrift "Mr. Untouchable" zu widerlegen.

Flugblatt gegen Rassenunruhen in Harlem, 1935/ Foto: Scherl

Romare Beardens Kunstwerk "Tomorrow I May Be Far Away, 1966/1967"

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Damals attestierten selbst Richter und Staatsanwälte Nicky Barnes eine "erstaunliche Präsenz und Aura der Führerschaft". Jugendliche bewunderten ihn für seinen flamboyanten Lebensstil, Intellektuelle für seine Belesenheit - der Drogenboss sollte im Gefängnis einen Poesie-Preis gewinnen. Und für die Armen inszenierte sich Nicky Barnes in Politiker-Manier: mit Truthähnen, die er an Thanksgiving den örtlichen Obdachlosenunterkünften schickte, und Weihnachtsgeschenken für mittellose Kinder. Auch der eher öffentlichkeitsscheue Frank Lucas hörte vor Gericht, er hätte es in einem zivilen Beruf weit bringen können. Wie Barnes lebte er diszipliniert, nahm keine Drogen und galt als hervorragender Rhetoriker. Und wenn Barnes' Territorium in seinen besten Zeiten bis nach Kanada und Arizona reichte, dann war der Analphabet aus North Carolina der erste, der Geschäftsbeziehungen nach Thailand und Vietnam aufnahm: der Quelle von Frank Lucas fast reinem "China White". Von dort rührt auch die Legende von den mit Heroin präparierten Särgen gefallener GIs. Lucas - sein Lebensstil erbrachte ihm den Beinamen "Superfly" - soll allein in den Jahren 1972 und 1973 mehr als 800 Kilo Heroin im Verkaufswert von 240 Millionen Dollar nach Amerika importiert haben. Eine Leistung, auf die er auch nach seiner Gefängnisentlassung 1991 stolz war: "Als Sohn eines armen Pachtbauern klingelten nicht mal zwei Zehnerl in meiner Tasche", erklärte er einem Reporter. "Ich kam nach Harlem mit einer Jeans, die ich seit einem Monat nicht gewechselt hatte. So wollte ich nicht weiterleben. Ich tat, was ich tun musste."

Romare Beardens Kunstwerk "Tomorrow I May Be Far Away, 1966/1967"/ Foto: ap

Künstler Hulbert Waldroup bei der Arbeit in New York

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Während Lucas und Barnes einsaßen und in Hip-Hop-Songs wie Nas "Get Down" oder Fat Joes "Part Deux" verewigt wurden, übernahm in den 80er Jahren eine neue Drogenkultur Harlem: Crack. Viele lokale Gangs verkauften die Billig-Droge an jeder Straßenecke. Junge Dealer wie Azie Faison oder Alpo Martinez waren die neuen Helden und reinvestierten Teile ihres Gewinns in Hip-Hop-Produktionen. Sie fuhren Porsches und BMWs statt der alten goldverzierten Cadillacs. Doch ihr Traum blieb der gleiche: "Sie sind keine exotischen Anderen, die in einer irrationalen Welt operieren", schrieb Philippe Bourgois in einer Studie über die Crackdealer Harlems. "Im Gegenteil: Sie sind hoch motivierte Inner-City-Jugendliche, die das Multimilliarden-Geschäft mit den Drogen vor allem deshalb anzieht, weil sie an den amerikanischen Traum glauben."

Künstler Hulbert Waldroup in New York/ Foto: ap

Norman Mailer und Muhammad Ali 1965

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Bei den Straßenhändlern in Harlem liegen die "American Gangster"-Poster längst neben den alten Schwarz-Weiß-Bildern von Malcolm X und Muhammad Ali aus. Wenn sie auch sonst wenig verbinden mag: Sie alle haben dem weißen Mann auf ihre Weise die Stirn geboten. Und das ist angesichts der Bedrohung durch die reichen weißen Spekulanten aus Downtown, steigende Mieten und den Exodus der kleinen schwarzen Geschäftsleute immer noch ein schlagendes Argument.

Norman Mailer und Mohammad Ali 1965/ Foto: ap

Text: Jonathan Fischer (SZ vom 14.11.2007), Bildauswahl: sueddeutsche.de/ihe

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