Musiktheater:Tragödie der Aufklärung

Erstmals wagt sich in Darmstadt ein ganz normales Opernhaus an Luigi Nonos legendäre Anti-Oper "Prometeo".

Von Simon Tönies

Man muss schon ein Fuchs sein, um die Frage, ob Luigi Nonos zweieinhalbstündiger, handlungsloser und ein Übermaß an Musikern und Mitteln erfordernder "Prometeo" eine Oper sei, so zu beantworten, wie der Dirigent Johannes Harneit vor der Premiere in Darmstadt: Natürlich sei sie das - nicht obwohl, sondern gerade weil sie den klassischen Opernbegriff sprenge. Das mache ja schließlich jede große Oper seit Monteverdi.

Diesen Gedanken während einer Einführungsveranstaltung vergnügt aus dem Handgelenk zu schütteln, um dann aufzuspringen mit den Worten, man müsse jetzt aber wirklich hinter die Partitur, ist die eine Leistung. Eine andere ist es, Nonos legendäres Spätwerk mit einem Nichtspezialisten-Ensemble packend und stringent auf die Beine zu stellen, wie es Harneit zusammen mit dem Intendanten des Staatstheaters Karsten Wiegand in Darmstadt gelungen ist.

Dieser Prometheus ist zwar ein Lichtbringer, aber schon lange kein Revolutionär mehr

Luigi Nono, der mit Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez die seriellen Komponisten der Fünfzigerjahre anführte, war einst regelmäßiger Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, er ließ hier seine Werke uraufführen, machte sogar seiner späteren Frau Nuria, der Tochter von Arnold Schönberg, den Heiratsantrag. Er sei in Darmstadt geboren, schrieb Nono einmal. In Wirklichkeit kam Nono 1924 in Venedig zur Welt.

Musiktheater: Dirigent Johannes Harneit vor der "Prometeo"-Partitur.

Dirigent Johannes Harneit vor der "Prometeo"-Partitur.

(Foto: Michael Hudler)

Es liegt also einerseits nahe, 30 Jahre nach der Uraufführung des "Prometeo" und ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des Komponisten genau dort, in Darmstadt, dessen drittes und letztes Musiktheaterstück zu zeigen. Andererseits hatten sich an den "Prometeo" angesichts seines enormen finanziellen, logistischen und spieltechnischen Aufwands - man bringe es einem Opernorchester einmal bei, Viertel- oder gar Sechzehnteltöne zu spielen! - bisher nur die großen Festivals gewagt. Eine Eingliederung des Stücks in den Repertoirebetrieb ist kaum vorstellbar. Genau das hatte sich nun aber Karsten Wiegand, Darmstadts neuer Intendant, für seine erste Spielzeit vorgenommen. Die Planung dafür hatte schon vor Jahren begonnen.

In einer Sporthalle lässt er das Publikum in kreisförmigen Sitzgruppen Platz nehmen, zunächst die Augen verbunden und umringt von Lautsprechern, Kammermusikgruppen, vier Orchestern, Gesangssolisten, Chor und Sprechern. In der Mitte Mischpulte, Computer und, auf einem hohen Podest über alles wachend, Harneit, der beim Dirigieren die Arme weit von sich streckt wie ein T, um die im Raum versprengte Musik zu bändigen. Nach jeder "Insel", wie Nono seine fragmentarischen Szenen nennt, wechselt das Publikum die Plätze. Das Zurückgeworfensein aufs bloße Hören, auf das schon Nonos Untertitel "Tragedia dell'ascolto" (Tragödie des Hörens) abzielt, soll auch bei Wiegand die Inszenierung ersetzen.

Musiktheater: Nach jeder "Insel", wie Komponist Luigi Nono seine fragmentarischen Szenen nennt, wechselt das Publikum die Plätze.

Nach jeder "Insel", wie Komponist Luigi Nono seine fragmentarischen Szenen nennt, wechselt das Publikum die Plätze.

(Foto: Michael Hudler)

Nun ist der späte Nono nicht mehr der Aktivist der Fünfziger- und Sechzigerjahre, der toskanischen Fabrikarbeitern ein Tonbandstück vorspielt, um sie in ihrem Elend wachzurütteln. Zwar blieb Nono, der 1952 in die Kommunistische Partei Italiens eingetreten ist, zeitlebens ein politischer Mensch. Allerdings fragt seine Musik seit dem Streichquartett "Fragmente - Stille" nach Grundsätzlicherem. Und so muss man auch seinen Prometheus verstehen: als Lichtbringer, aber nicht als rotzig gegen die Götter aufbegehrender Revolutionär wie noch bei Goethe.

Nono schichtet mit seinem Librettisten Massimo Cacciari Textfragmente aus der gesamten europäischen Kulturgeschichte auf, darunter Aischylos, Hölderlin, Rilke, Benjamin. Musikalisch bedient er sich bei der venezianischen Mehrchörigkeit wie bei Schumann, Verdi und Mahler. In extrem leisen, schwebenden Tönen, in Pausen, im Atmen, im nackten Geräusch erzählt sein Prometheus vom Ende der Unschuld des Menschen. Seine Tragödie ist die der Aufklärung, der Naturbeherrschung in ihrer ganzen Dialektik.

Musiktheater: Umringt ist das Publikum von Lautsprechern, Kammermusikgruppen, vier Orchestern, Gesangssolisten, Chor und Sprechern.

Umringt ist das Publikum von Lautsprechern, Kammermusikgruppen, vier Orchestern, Gesangssolisten, Chor und Sprechern.

(Foto: Michael Hudler)

Die betörende Hölderlin-Insel, in der zwei Soprane in höchster Lage den Sturz des Menschen aus Hölderlins Schicksalslied zitieren, während Bassflöte und Kontrabassklarinette den Raum ins Bodenlose öffnen, singen in Darmstadt Ensemblemitglied Aki Hashimoto, und Christina Daletska. Beide haben ein absolutes Gehör, was den mikrotonalen Forderungen Nonos entgegenkommt. Mit Minseok Kim ist die Partie des Prometheus (sofern man davon reden kann) ebenfalls mit einem hauseigenen Sänger besetzt. Sein starkes Vibrato hat einen Hang zum Belcanto. Das passt durchaus zum "Prometeo", kontrastiert jedoch manchmal auf skurrile Art mit den ätherisch-körperlosen Frauenstimmen.

So beachtlich die Leistung aller ist, so hat die Eingliederung einer so dezidierten Antioper wie Nonos "Prometeo" in den Saisonbetrieb auch eine Kehrseite. Sie zeigt auf den Verschleiß des Werks. Mag die Verlagerung des Szenischen in die Struktur der Musik, das Postdramatische im Umfeld der Literaturoper vor 30 Jahren noch radikal gewesen sein, so ist das Publikum ähnliche Aufführungssituationen inzwischen längst gewohnt. Fehlt aber dieser Stachel, die Zumutung, dann gleitet Nonos utopische Musik mit ihren leeren Quinten, ihren Naturlauten, ihrer Gestik des Zurück-zum-Mythos allzu schnell ins Ideologische ab. Die in Darmstadt verteilten Augenbinden befördern dann weniger das Lauschen, als das Dösen. Dem könnte nur eine gute Inszenierung wirklich etwas entgegensetzen.

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