Musikfestival in Ingolstadt:Träume von einer anderen Welt

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"Sehnsuchtsorte" lautet das Leitmotiv der Sommerkonzerte, das sich auch in den dargebotenen Werken und Aufführungsorten widerspiegelt. Das Festival fördert persönliche Begegnungen von Musikliebhabern und Künstlern.

Von Antje Rössler

Franz Schubert sehnte sich nach dem Land, "wo die Citronen blühn". Ludwig van Beethoven liebte die einheimische Natur rings um Wien. Viele Musiker träumten von Liebe, von Freiheit, einer anderen, besseren Welt. Im Bereich des Klangs ist die Sehnsucht ein Grundgefühl.

Diesen Facettenreichtum wollen Organisatoren, Musiker und Besucher der Audi- Sommerkonzerte erkunden, die 2018 unter dem Motto "Sehnsuchtsorte" stehen. Gegenüber früheren Jahren zeitlich gestrafft, läuft die Veranstaltungsreihe vom 13. bis 28. Juli auf verschiedenen Podien in Ingolstadt. Das Leitmotiv des Festivals spiegelt sich nicht nur in den ausgewählten Werken, sondern auch in der Auswahl der Künstler, Kompositionen und Konzertorte wider. So lässt der Organist Cameron Carpenter das Berlin der Zwanzigerjahre, damals ein Sehnsuchtsort auch der Bohème, aufleben, wenn er zum Stummfilmklassiker "Berlin - Die Sinfonie der Großstadt" improvisiert.

Sowohl irdisches als auch geistliches Verlangen begegnet dem Konzertbesucher. Das Schumann Quartett widmet seinen Auftritt dem tschechischen Komponisten Leoš Janáček und seiner Muse, der 37 Jahre jüngeren Kamila Stösslová. Beim Gastspiel der Salzburger Festspiele wiederum leitet der Gambist Jordi Savall einen Passionszyklus aus der spanischen Spätrenaissance. Die Aufführung im gotischen Liebfrauenmünster steht unter dem Titel "Freudiges Hoffen nach finsterer Nacht".

Künstler aus aller Welt treten bei den Sommerkonzerten in Ingolstadt auf. Dort spielt in dieser Saison zum Beispiel das Schumann Quartett. (Foto: Kaupo Kikkas)

Ruth Schwerdtfeger, seit dieser Saison Festival-Verantwortliche bei Audi, weist auf ein Konzert des Pianisten Nikolai Lugansky mit dem Philharmonia Orchestra London hin, dessen Thema "Heimat und Exil" gleich zwei Sehnsuchtsorte umfasse: "Ein Klavierkonzert des nach Amerika emigrierten Russen Sergej Rachmaninow steht neben der Zweiten Sinfonie von Jean Sibelius, die einst als klingendes Manifest gegen die Russifizierung Finnlands galt."

Weiterhin widmet sich das Georgische Kammerorchester, Stammgast der Sommerkonzerte, unter dem Motto "I like to be in America" dem Geburtsland der Pop-Kultur. Das Freiluftkonzert bietet schwungvolle Klänge unter anderem von Leonard Bernstein und Cole Porter; mit von der Partie sind der türkische Pianist Fazıl Say und die Audi-Bläserphilharmonie.

Schwerpunkt-Künstler des Festivals ist der finnische Geiger Pekka Kuusisto, Ruth Schwerdtfeger zufolge ein "brillanter, mitreißender Musiker, der sein Publikum mit offenen Armen empfängt." Der 41-Jährige unternimmt musikalische Grenzgänge. In der Klassik fühlt er sich ebenso zu Hause wie im Jazz; sein Repertoire reicht von finnischer Folklore bis hin zu elektronischer Musik mit der E-Geige. "Es ist kein Unglück, wenn der Komponist noch nicht tot ist", meint der vielseitige Musiker, der schon als Kleinkind zusammen mit seinem Bruder improvisierte. Sein Vater ist der finnische Komponist Ilkka Kuusisto.

Organist Cameron Carpenter tritt ebenfalls in Ingolstadt auf. (Foto: Thomas Grube)

In Ingolstadt gibt Pekka Kuusisto ein sinfonisches und ein kammermusikalisches Konzert. Die Festival-Eröffnung, das Klassik-Open-Air bei freiem Eintritt im Klenzepark, gestaltet er zusammen mit dem Mahler Chamber Orchestra. Das Programm trägt den Titel "Skandinavische Weite" - passend zum diesjährigen Leitmotiv. Zu hören ist Musik aus Nordeuropa, von Edvard Grieg bis hin zu Jean Sibelius. "Diese Musik spiegelt die nordischen Landschaften wider", sagt der finnische Geiger. "Wenn ich sie woanders aufführe, wird meine eigene Heimat für mich zum Sehnsuchtsort." Dargeboten wird auch "Cantus Arcticus - Konzert für Vögel und Orchester" des finnischen Komponisten Einojuhani Rautavaara, ein klingendes Naturbild mit arktischen Vogelstimmen. "Die Zugvögel balzen und paaren sich in Skandinavien; nach einem kurzen Sommer fliegen sie wieder nach Süden. Für uns sind sie ein Symbol der Freiheit und des Unterwegs-seins", meint Kuusisto.

Abgerundet wird das Klassik-Open-Air mit der Ersten Sinfonie des Naturfreundes Beethoven, die Kuusisto als Konzertmeister vom ersten Pult aus leitet. Der Musiker moderiert den Abend selbst und bringt dabei auch seine E-Geige zum Einsatz. "In ein Open Air gehe ich mit einer besonderen Einstellung", stellt der wandlungsfähige Musiker fest. "Man muss viel mehr Intensität und Ausstrahlung aufbringen, um auch die hinteren Reihen zu erreichen."

Aus der Nähe kann man Kuusisto hingegen im Kammerkonzert erleben, das in den schlichten, hellen Räumen des Museums für Konkrete Kunst stattfindet. Der Musiker bittet dann die moldawische Geigerin Patricia Kopatchinskaja hinzu, die für ihr ungezwungenes Naturell und ihre Barfuß-Auftritte bekannt ist. "Patricia und ich hatten mal ein gemeinsames Streichquartett. Seitdem sind wir nicht mehr gemeinsam aufgetreten", erzählt der finnische Künstler. "Da dachten wir uns: Es ist mal wieder Zeit. Über das endgültige Programm entscheiden wir relativ spontan."

Die Geigerin Patricia Kopachinskaja präsentiert gemeinsam mit Pekka Kuusisto ein Violonduo-Programm. (Foto: Julia Wesely)

Persönliche Begegnungen sind auch sonst ein Merkmal der Sommerkonzerte. "Wir wollten die abstrakte Ebene verlassen und betonen, dass Musik von Menschen für Menschen gemacht wird", sagt Ruth Schwerdtfeger, die das Festival zusammen mit einem vierköpfigen Team organisiert. "Deshalb ermöglichen wir Begegnungen - so gibt es Künstlergespräche mit Stars wie dem Organisten Cameron Carpenter oder dem lettischen Komponisten Pēteris Vasks, von dem Sol Gabetta ein Cellokonzert spielen wird." Aber auch die Konzertbesucher untereinander kommen bei dieser Gelegenheit ins Gespräch, etwa wenn man beim Klassik-Open-Air lässig auf Picknickdecken sitzt.

Und erstmals begeben sich die Sommerkonzerte in die heimischen vier Wände eines Ingolstädter Klassik-Fans. Es lief eine Bewerbung für ein privates Salonkonzert mit zwei preisgekrönten Nachwuchs-Cellisten. Der Gewinner steht inzwischen fest. Er darf 15 Gäste einladen; für einen Imbiss ist gesorgt.

Die Hinwendung zum Publikum geht einher mit einer größeren Bandbreite der Konzertorte. "Wir begreifen das Festival als einen Teil der Stadt", meint Ruth Schwerdtfeger. "Die Konzerte sollen in der Stadt zu spüren sein." Im Museum für Konkrete Kunst und zwischen den Stahl-Skulpturen des Alf-Lechner-Museums finden ebenso Veranstaltungen statt wie in der prunkvollen barocken Asamkirche, deren Beliebtheit unter den Konzertbesuchern eine Publikumsumfrage der Sommerkonzerte offenbart hat. Hier tritt die Cellistin Sol Gabetta zusammen mit dem Kammerorchester Basel auf. Auch das Schumann Quartett mit dem Klarinettisten Andreas Ottensamer ist an diesem Ort zu erleben.

Zum Festival-Finale treffen schließlich fünf klassische Streicher auf das französische Elektronik-Trio DOP. So wird am Ende bei den Sommerkonzerten auch der Sehnsucht nach Grenzüberschreitung nachgegeben.

© SZ vom 29.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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