Musikbranche:Das totale Archiv

Die Revolution fällt eine Nummer kleiner aus: Wie die Technik die Ästhetik und Rezeption der Popmusik wirklich verändert. Es lebe die Festplatte.

Von Dirk Peitz

Es ist, als sei nach Jahren der rasenden Veränderung eine halbwegs stabile Ordnung wiederhergestellt: Der Musikmarkt scheint nach einer endlosen Phase kommerzieller und technischer Umwälzungen für die nähere Zukunft wieder überschaubar. Nachdem der Tonträgerabsatz in den vergangenen Jahren ins Bodenlose fiel, hat er sich im ersten Halbjahr 2004 in Deutschland stabilisiert.

Musikbranche: Schon seit 2001 auf dem Markt und nur der Anfang der wandelnden Plattensammlung: Macintoshs ipod in der ersten Generation.

Schon seit 2001 auf dem Markt und nur der Anfang der wandelnden Plattensammlung: Macintoshs ipod in der ersten Generation.

(Foto: Foto: rtr)

Allein die neue Strategie der Plattenfirma BMG, probeweise ausgewählte Alben in drei Ausstattungsvarianten anzubieten, sorgt für etwas Unruhe - in dieser Woche wurde das neue 2raumwohnung-Album als erstes in den Ausführungen Basic (ohne Booklet für 9,99 Euro), Standard (mit Booklet für 12,99) und Premium (mit Bonusmaterial für 16,99) ausgeliefert.

Ein letztes Rückzugsgefecht

Das wirkt jedoch wie ein letztes Rückzugsgefecht, denn nach ewigem Vorgeplänkel ist auch der Markt für bezahlte Musikdownloads angelaufen. Rund eine Million Lieder werden derzeit pro Monat in Deutschland über das Netz verkauft, die meisten davon über die Apple-Plattform iTunes. Noch ist die Zahl der restlichen Anbieter verwirrend groß.

Doch nach dem Siegeszug Apples hat nun auch Microsoft in dieser Woche mit dem Testlauf des "MSN Music"-Stores in den USA begonnen, Mitte Oktober startet die Plattform offiziell. So könnte sich der Markt sortieren, sobald Microsoft seinen Musicstore auch in Europa öffnet. Unabsehbar ist nur, wie schnell der Anteil der über das Netz verkauften Musik ansteigen wird, der im diesbezüglich am weitesten entwickelten US-Markt bislang nur zwei Prozent des Musikumsatzes ausmacht. Schätzungen gehen von zehn Prozent in fünf Jahren aus. Die CD wird also so schnell nicht verschwinden.

Soweit die Marktbetrachtung, die jedoch unabdingbar ist für die wesentlich interessantere Frage, was das alles eigentlich mit der Musik selbst anstellt, mit ihrer Rezeption und Ästhetik. Beides wird sich durch die fortschreitende Ablösung der Musik vom Medium Tonträger verändern - doch womöglich weit weniger revolutionär, als bislang angenommen. Es zeigt sich nämlich, dass die meisten der von der neuen Technik ausgehenden Entwicklungen nur solche fortschreiben, die längst im Gange sind.

Die markanteste, tatsächlich paradigmatische Veränderung betrifft die Verfügbarkeit von Musik: Die Plattenindustrie verliert ihr Monopol auf die Gesamtheit aller veröffentlichten Musik. An dessen Stelle tritt ein totales, privatisiertes und dezentrales Archiv aller gespeicherten Töne. Das geschieht nicht auf dem Weg der illegalen Downloads oder File-Sharings, diese Arten der Aneignung werden aufgrund strafrechtlicher Verfolgung womöglich verschwinden.

Sondern über direkten Kontakt im nach Außen geschützten Bereich: Das Liedertauschen in internen Netzwerken oder durch unmittelbares Zusammenschalten zweier mit Musik gefüllter Festplatten ersetzt den zurückverfolgbaren Download im Netz und ähnelt im Prinzip dem früheren Kassettenaufnehmen - als einem privaten Akt gegenseitiger Musiküberlassung.

Die Festplatte als dezentraler Verwaltungsort

Während der nun lediglich auf eine avanciertere Art geschieht, ändert sich die Tauschmenge radikal. Es geht nicht mehr um eine Auswahl für 90 Minuten Kassettenzeit, sondern um unbeschränkte Datenmengen, weit jenseits des Umfangs herkömmlicher Plattensammlungen. So entsteht ein auf zig Millionen Festplatten dezentral verwalteter Ton-Orkus, der theoretisch nicht nur alle auf CD erschienene Musik umfasst, sondern sogar alle bislang nicht wiederveröffentlichten, vergessenen Vinylplatten - dank neuer Software lassen sich am PC auch Schallplatten digital verfügbar machen.

Das totale Archiv

Als tragbare Agenten dieses Orkus dienen MP3-Player wie Apples iPod, auf dessen Festplattenspeicher schon heute 10.000 Lieder abgelegt werden können. Dieser ist nur in einem ersten Schritt ein Ersatzbehälter für die Plattensammlung, der die Musikmenge eines Wandregals voller CDs transportabel macht. Tatsächlich ist er eher ein endlos neu bespielbares Wechselmedium für jenes totale Archiv, das die in ihm enthaltene Musik tendenziell egalisiert, dehistorisiert und dekontextualisiert - als bloße digitale Information.

Daraus ergeben sich zwei rezeptive Veränderungen: Einerseits steigt die Menge der gehörten historischen Musik beim iPod-Besitzer im Vergleich zur Nutzung einer Plattensammlung, bei der die Altbestände auf das noch Hörbare hin sortiert werden, exponentiell an - das Neue bekommt ungeahnt alte Konkurrenz. Andererseits produziert die schiere Menge des Verfügbaren vielfache Ordnungsprobleme, denen der Nutzer nur durch die Random-Funktion des iPod entgeht - der Zufall macht die Musik und imitiert das Radio. Nur dass dieser Sender allein noch Lieblingslieder kennt.

Weit weniger drastisch sind die ästhetischen Auswirkungen auf die Musik. Dass das Künstleralbum als Konzept womöglich verschwindet - geschenkt, schon heute sind die meisten Platten stilistisch breit gefächerte De-Facto-Compilations, deren Kontext als Gesamtheit nicht zwingend ist. Dass die Musik durch ihre totale Verfügbarkeit noch weiter funktionalisiert wird als bloße Begleit- und Hintergrundkunstform - auch das ist nicht neu, dieser vermeintliche Entwertungsprozess ist ein ständiger Begleiter der Popmusik.

Technikfortschritte und alltägliche Nutzungsarten von Musik waren schon immer Bedingungen ihrer Entwicklung: Die Walls of Sound Phil Spectors wären ohne den Fortschritt in der HiFi-Technik undenkbar gewesen, Tempo und Basslastigkeit des HipHop und R&B lassen sich auf die Nutzung der Musik als Autobeschallung beim Cruising zurückführen, moderne Tanzmusik ist funktionalistisch für den Club konzipiert und außerhalb kaum hörbar, Muzak und Easy Listening nannten nur als Erste ihr Funktionsdasein beim Namen.

Das Prä des Klangs vor dem Inhalt ist alt und wird also in der Zukunft vielfach lediglich unter veränderten Bedingungen fortgeschrieben. Nur insofern trifft zu, dass die Musikindustrie heute von der neuen Technik für etwas wirtschaftlich bestraft wird, was sie ästhetisch seit langem gepflegt hat. Ein echter Verfall für den Hörer droht allenfalls da, wo die hilflose Zweitverwertungsmanie der Musikindustrie mit Kreativität verwechselt wird: Ende des Monats startet im britischen Fernsehsender ITV die erste Ringtone-Chartssendung. Das ästhetische Schrumpfprodukt Klingelton als Kunstform - das ist nun wirklich eine schlechte Nachricht.

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