Musik-Streaming:30 Sekunden, die den Pop verändern

FILE PHOTO: 2017 MTV Video Music Awards  Show in Inglewood

Der aktuelle Hit "What About Us" der Pop-Sängerin Pink (hier bei einem Auftritt während der MTV-Video-Music-Awards im August) ist ein Musterbeispiel für streaming-optimierte Musik.

(Foto: REUTERS)

Der Erfolg von Musik-Streaming-Diensten wie Spotify ist nicht nur ein ökonomisches Phänomen. Er wirkt sich auch auf die Musik aus. Grund dafür ist ein technisches Detail.

Von Jan Kedves

Zerstört Spotify den Popsong? Die These lässt sich aus einem Text herauslesen, den kürzlich das Magazin Pitchfork veröffentlicht hat. Unter der Überschrift "Uncovering How Streaming Is Changing the Sound of Pop" erklärt der amerikanische Autor Marc Hogan, warum Popsongs im Zeitalter des digitalen Streamings anders klingen, und vor allem: warum sie anders beginnen als früher: intensiver, ungeduldiger, komprimierter. Songwriter würden in die ersten 30 Sekunden von Songs immer mehr hineinpacken, schreibt Hogan, der Grund dafür liege in einem technischen Detail: dem Fakt, dass Spotify, der Marktführer im Streaming-Markt aus Schweden, abgerufene Songs erst ab 30 Sekunden Spieldauer zählt.

Um das genau zu verstehen, muss man daran erinnern, dass man früher, wenn einem beim Radiohören oder MTV-Sehen ein Song nicht gefiel, eben umschaltete, oder man ging auf Toilette oder zum Kühlschrank. Heute, auf Spotify oder anderen Streaming-Plattformen, skippt man weiter, und wenn der nächste Song einen auch nicht gleich packen kann, skippt man noch mal weiter, und so weiter, zur Not 30 Millionen Mal, denn so viele Songs gibt es allein auf Spotify.

Neue Songs müssen jetzt quasi mit der Tür ins Haus fallen

Ein eilig weggeskippter Song wurde natürlich nicht wirklich "angehört", er lief ja nur wenige Sekunden lang und wurde in der Zeit nicht mal gemocht. Weswegen es falsch wäre, wenn weggeskippte Songs in die Pop-Charts mit einfließen würden (in Deutschland werden die Spotify-Statistiken seit 2016 in die Charts mit einberechnet, in den USA seit 2012). Abgesehen davon gibt es immer wieder Versuche, die Spotify-Statistiken mit Klickbots zu manipulieren, sprich: mit Programmen, die automatisiert Aufrufbefehle verballern. Ob Hacker, Plattenfirmen oder frustrierte Musiker dahinter stehen, weiß man nicht so genau. Jedenfalls: Spotify nimmt an, dass ein Stream, der länger als 30 Sekunden lief, von einem echten Menschen angehört wurde, erst dann wird der Stream gezählt.

Was natürlich - und hier kommen wir zu den Konsequenzen für den Popsong - dazu führt, dass beim Songwriting ein neuer Fokus auf die entscheidende erste halbe Minute gelenkt wird. Neue Songs, die noch niemand kennt und die aus den anderen 30 Millionen Songs herausstechen und zum Hit werden sollen, müssen jetzt quasi mit der Tür ins Haus fallen.

In Songwriting-Sitzungen fällt oft der Satz: "Wir müssen etwas machen, das wie Spotify klingt."

Die einfachste Lösung aus Songwriter-Perspektive wäre es nun, jeden Song mit "She loves you, yeah yeah yeah" beginnen zu lassen. Der Beatles-Song aus dem Jahr 1963 steigt sofort mit dem Refrain ein. Maximale Intensität und garantierter Mitsing-Appeal von Sekunde eins an. Das wäre auf Dauer aber ermüdend. Deswegen gibt es zwei andere Strategien, die Marc Hogan in seinem Pitchfork-Text grob umreißt und die wie auf Spotify und dessen 140 Millionen User weltweit zugeschnitten scheinen. Erstens: Zu Beginn des Songs wird der extrem eingängige Refrain schon in Teilen angedeutet, aber eben nur in Teilen, weil in den ersten 30 Sekunden noch nicht alles verschenkt werden soll. Die Andeutung wirkt wie ein Magnet, der den Hörer über die 30-Sekunden-Marke hinüberzieht. Zweitens: Das instrumentale Intro und die erste Strophe - jene Elemente, die in der Regel am Anfang eines Songs stehen - werden so kurz gehalten, dass noch innerhalb der ersten 30 Sekunden der sogenannte "Pre-Chorus" starten kann, jene Passage, die traditionell zum Refrain überleitet.

Erstere Lösung ist exemplarisch nachzuhören im aktuellen Hit der Sängerin Pink, "What About Us", der in den deutschen Pop-Charts gerade auf Platz 8 steht: Da hört man in den ersten acht Sekunden ein Klaviermotiv, in dessen Hintergrund schon eine heruntergepitchte Stimme, die nicht von Pink selbst zu stammen scheint, mysteriös heulende Laute von sich gibt (bestimmt wird das Rätsel um dieses Leid später im Song aufgelöst?), dann setzt Pink zum schwelgerischen "La-da-da" an, was, wie sich später herausstellt, Teil eines zweiten Refrains ist, dann setzt die erste Strophe ein. Man ist da gerade bei Sekunde 16. Was für ein Zeitmanagement!

Die zweite Lösung war Anfang des Jahres in Reinform im Hit "It Ain't Me" von Kygo und Selena Gomez (Platz 2 in Deutschland) zu hören: Ein flottes Gitarrenmotiv bereitet acht Sekunden lang den Einsatz der Strophe vor, die Selena Gomez bei Sekunde 9 mit den Worten "I had a dream" eröffnet (wer würde nicht wissen wollen, was Selena Gomez nachts träumt? Sie erzählt es uns bestimmt weiter hinten im Song!). Zur Mitte der Strophe werden dann bauschige Synthesizer untergeschoben, einfach damit irgendetwas passiert und es nicht schon langweilig wird. Dann, bei Sekunde 29, setzt Gomez mit einem dramatischen "Oh-oh" zum Sprung in den Pre-Chorus an, und wer jetzt noch wegklicken will, der wird vom Einschlag der Bassdrum überrumpelt. Vollteffer!

Marc Hogan zitiert unter anderem die 25-jährige Songwriterin Emily Warren aus New York, die hinter den Kulissen der Pop-Industrie in kollektiven Songwriting-Sessions zum Beispiel schon an Stücken für das Hit-Duo The Chainsmokers mitgeschrieben hat: "In den Sessions sagen die Leute inzwischen tatsächlich: ,Wir müssen etwas machen, das wie Spotify klingt'." Wie sich der Spotify-Imperativ auf die Songstruktur auswirkt, ist aber nur das eine. Es hat sich auch längst ein spezifischer Spotify-Sound herausgebildet, und er heißt "Pop-Drop".

Es gibt auch schon die Gegenbewegung zum Spotify-Sound

Immer wenn man in den vergangenen Monaten Songs hörte, in denen der Sänger oder die Sängerin nach dem Refrain plötzlich anfängt, zu ätzend-aggressiven Synthesizer-Klängen komisch herumzustottern, wurde man Zeuge des Pop-Drop. Die deutschen Top 20 sind gerade voll davon. Der Pop-Drop nimmt ein Element aus der Rave-Kultur - den "Drop", bei dem die Arme in die Luft fliegen sollen - und reichert ihn mit gehäckselten Vocal-Splittern aus der Gesangsspur an. Man könnte auch sagen: Dadurch, dass in für Spotify optimierten Songs aus Angst vor dem eiligen Abschied die altbekannten Song-Elemente - Strophe, Pre-Chorus, Refrain - immer weiter nach vorne rutschen beziehungsweise kompromiert werden, muss weiter hinten ja noch irgendetwas kommen. Sonst wären Songs plötzlich nur noch zwei Minuten lang. Et voilà: Der "Pop-Drop" rückt an die Stelle des klassischen Refrains.

Sogar U2 haben sich kürzlich von dem bereits erwähnten Kygo, der aus Norwegen stammt und bürgerlich Kyrre Gørvell-Dahll heißt, ihre Single "You're The Best Thing About Me" fürs Spotify-Publikum zurechtmixen lassen, inklusive Pop-Drop. Denn auch Bono lässt sich gerne zerhacken, wenn er damit nur irgendwie bei den Millennials landen kann - den 18- bis 37-Jährigen, die 70 Prozent der Spotify-Hörerschaft ausmachen und die EDM-Musik viel lieber mögen als Rock.

Die Gegenbewegung ist aber auch schon aktiv, sie favorisiert den sogenannten "Deep Cut"

Das ist nun insgesamt natürlich sehr viel der Pop-Formelhaftigkeit und des Song-Streamlinings für den nervösen Skip-Finger - und wer nun eigentlich schon genug hat, der sei beruhigt. Denn es gibt auch das Gegenstück zum Pop-Drop, oder pathetischer gesagt: Es gibt die Gegenbewegung zum Spotify-Sound. Der Begriff "Deep Cut" wird in den vergangenen Monaten im Netz immer häufiger verwendet, um auf Songs aufmerksam zu machen, die gerade nicht formelhaft auf Hit optimiert sind. In der Welt des Classic Rock ist der Begriff "Deep Cut" schon lange eingeführt. Als zum Beispiel kürzlich Tom Petty starb, enthielt fast jeder Nachruf auf ihn eine Youtube-Liste seiner Deep Cuts, also: Tom-Petty-Stücke, die eher unbekannt sind, aber eigentlich noch viel toller als seine Hits. Früher hätte man gesagt: verkannte Meisterwerke, oder: B-Seite. Heute sagt man Deep Cuts - "deep", weil es das Gegenteil von oberflächlich ist, und "cuts", weil zwar kaum noch jemand weiß, was eine B-Seite ist, sich Referenzen ans Vinyl-Zeitalter aber trotzdem immer gut machen. Dass sich qualitativ besonders hochwertige Pop-Musik beim Vinylschnitt allein aufgrund ihrer künstlerischen Gravität besonders tief in die Rillen eingraben könnte, ist natürlich eine magische Vorstellung. Aber wenn sie hilft, im Netz Interesse zu wecken?

Mit dem Begriff werden jedenfalls längst nicht nur historisch abgeschlossene Pop-Oeuvres neu durchforstet. Es werden auch im Schaffen zeitgenössischer Pop-Künstler und -Künstlerinnen immer neue "Deep Cuts" gefunden und neu verlinkt - also: Trüffel, die man bislang überhört hatte und die die Erwartungen auf die eine oder andere Weise positiv unterlaufen. Das geht so weit, dass das Billboard Magazine schon die Deep Cuts von Britney Spears aufgelistet hat (der Song "Coupure Électrique" ist für Spears-Verhältnisse tatsächlich avantgardistisch!) oder der Rolling Stone die von Taylor Swift.

Möglicherweise wird der Begriff so auch schon wieder ad absurdum geführt. Aber grundsätzlich ist es nicht verkehrt, wenn sich, parallel zum Spotify-Sound, im Netz eine Empfehlungskultur etabliert, die mit dem Versprechen lockt, dass derjenige, der sich durch Deep Cuts hört, zwar schon mehr Geduld als 30 Sekunden mitbringen muss, dafür aber mit interessanterer, abseitigerer, nicht-formelhafter Musik belohnt wird. Vielleicht ließe sich so in Zeiten der Skip-Taste sogar ein dezidiertes Spezialistentum am Leben erhalten? Mal sehen, wer damit anfängt, Deep-Cuts-Listen mit den unterschätztesten Pop-Drops zu teilen.

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