Musik:Niemand wird übertölpelt

Konzertfotos zum musica viva-Orchesterkonzert

Sternstunde: Isabelle Faust spielt in München.

(Foto: Astrid Ackermann)

Die Geigerin Isabelle Faust verweigert alles Pathos - und begeistert gerade damit bei den "Musica viva"-Konzerten in München.

Von Reinhard J. Brembeck

Manche Rätsel lassen sich einfach nicht lösen. Dass muss kein gravierender Nachteil für die Menschheit und speziell für den einzelnen sein, es kann ein Riesengewinn sein. So wie jetzt der Auftritt der Geigerin Isabelle Faust in der Münchner Reihe "musica viva", wo sie gleich drei Konzerte im Herkulessaal bestritt. Dabei spielte sie, so virtuos wie musikantisch, nicht nur die Uraufführung von Andřej Adámeks Geigenkonzert "Follow me", sondern auch alle sechs Violinsolo-Stücke von Johann Sebastian Bach, die in der fast viertelstündigen Ciaccona gipfeln, dem Höhepunkt der Geigerliteratur.

Isabelle Faust, Jahrgang 1972, denkt nie daran, obwohl ihre frappante Virtuosität dies ohne weiteres zuließe, ihr Publikum durch Leidenschaft oder ausgefallene Interpretationen zu übertölpeln. Viel lieber führt sie skrupulös den Reichtum der Partituren vor. Sie macht das unsentimental, rasant, durchdacht, klangfarbensprühend. So gibt sie dem Publikum die seltene Chance, sich aufs Komponierte konzentrieren zu können, das bei Faust nicht durch ein hemmungslos ausgestelltes Mega-Ego verstellt wird. Kaum bemerkt der Hörer, wie nuanciert fein ihr Spiel ist, wie cool sie die aberwitzigsten Technikhürden deklassiert, wie sorgfältig sie am Notentext bleibt - ohne je technokratisch steril zu werden. Isabelle Faust atmet mit den Phrasen, die sie sanft be- und entschleunigt, drängt, ziseliert und strukturiert.

Fausts Kunst ist also eine, die dem Hörer erst nach und nach bewusst wird. Und weil diese Violinistin nie wie ihr Namensvetter mit dem Schädel durch die Wand will, weil sie keine existenziellen Kämpfe auf der Bühne ausficht, nie schnauft noch schwitzt, wirkt das Publikum nach Adámek und besonders den beiden Bach-Recitals fassungslos. Faust, immer Lächeln, Tanz und Eleganz, beweist die große Nähe von Zen-Buddhismus und Klassik. Bach erscheint deshalb überglücklich. Wie diese Musikerin das Gestrüpp dieser Musik als demokratische Vieltönerei wahrt, alles Pathos verweigert, Italiens Melancholie beschwört, sich wie dem Publikum keine Wiederholung schenkt und zuletzt keineswegs erschöpft, sondern nach wie vor neugierig sowie glücklich sich verneigt: Dafür ist der Ausdruck Sternstunde eine Übertreibung.

Andřej Adámek, 1979 in Prag geboren, ist einer der sehr viel beschäftigten, das heißt: äußerst erfolgreichen Komponisten. Sein erstes Konzert für ein Soloinstrument und Orchester, in München fulminant bejubelt, erklärt, warum. Adámek nimmt die überkommene dreisätzige Konzertform, er füllt sie mit einer Flut an Einfällen, achtet verspielt auf eine Entwicklung, die Hörertäuschungen mit sich bringt und Assoziationen an Tradition und Balkanmusik. Er stößt sein Publikum nie vor den Kopf und nimmt seine Kunst nie bierernst. Das alles ergibt den Anspruch auf mitteleuropäischer Großkomponist, dem Synthese und Harmonie hohe Werte sind. Nicht nur das Publikum goutiert diesen retrospektiv emotionalen Ansatz. Auch die BR-Sinfoniker unter dem immer gelassener und großzügiger werdenden Dirigenten Peter Rundel fühlt sich hier ganz daheim. Ist doch der Tonfall des Adámek-Konzerts nicht wirklich so verschieden von dem romantischen und frühmodernem Repertoire, das ihr Chef Mariss Jansons bevorzugt aufführt.

Mit Bachs Solo-Stücken korrespondiert moderne Musik, die "Vertigo" oder "Aether" heißt

Dass es auch ganz anders gehen kann, beweisen die Stücke von Christophe Bertrand und Rebecca Saunders. Bertrand, der 2010 mit 29 Jahren Suizid beging, hat mit dem drei Jahre zuvor erstgespielten "Vertigo" durchaus keine billige Hitchcock-Hommage geliefert, sondern einen distanzierten Totentanz, dessen Strudel die beiden vollbeschäftigten Solopianisten des Duos GrauSchumacher nun ständig in gläsern eisige Abgründe rissen. Christophe Bertrand komponiert in Anlehnung an den Dichter Charles Baudelaire einen obskuren Abgrund, nackt und von einer Sonne ohne Wärme beschienen, dessen Nacht das Chaos ist. Keine Sekunde lang denkt diese Musik daran innezuhalten, und der Trubel kann sich durchaus messen mit den atemlosen schnellen Sätzen Bachs.

Rebecca Saunders, 1967 in London geboren und in Berlin lebend, ist sehr viel radikaler. Wo andere ein Orchester brauchen, genügen Saunders in dem mit 30 Minuten längsten und vielfältigsten Stück des Abends, "Aether", die beiden Bassklarinettisten Carl Rosman und Richard Haynes. Die beiden spielen nicht nur zweistimmig, sie fälteln einen Klang auf, für den kein Orchester ausreichen würde.

Während Adámek und Bertrand die Form logisch und nachvollziehbar entwickeln, setzt die sehr viel nüchterne Saunders konsequent auf Neubeginn und Neuerfindung. Auch auf das Risiko hin, dass sich daraus ein unzusammenhängendes Sammelsurium versprengter Einfälle ergeben könnte. Das Verblüffende an "Aether" ist, dass sich dieser Eindruck selbst gegen Ende nicht einstellen will. Saunders legt wie Bach ihre Kompositionsstrategien nie offen, sie erklärt ihrem Publikum nichts, sie übertölpelt (wie auch Isabelle Faust) niemanden. Damit schafft auch sie ein unlösbares Rätsel, das ein Riesengewinn für den Hörer ist.

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