Musik im Netz:Diktatur der DJs

Der DJ, früher Herrscher über Neuerscheinung und Trends, heute bringt das Internet die Fülle der aktuellen Tracks auf den heimischen Ipod. Lang lebe die Zufallstaste!

Tobias Kniebe

Für die "Late Night Tales"-Serie des Azuli-Labels stellen Popstars gern musikalische Gutenachtgeschichten zusammen. Letztes Jahr waren die Jungs von "Air" dran: Sie präsentierten eine wilde Mischung, vom Filmkomponisten George Delerue über Scott Walker bis hin zu Black Sabbath. Im Booklet zum Album erläuterten sie ihre Auswahl, aber was viel wichtiger war: Zugleich enthüllten sie eine wunderbar zeitgemäße Strategie zur Entdeckung neuer Lieblingssongs.

Sehr viel Musik nämlich hätten ihnen einfach Freunde irgendwann auf ihre Ipods überspielt, erklärten sie, und per Zufallsauswahl hätten sie darin ihre neuen Lieblingssongs entdeckt: Eine Empfehlung Gleichgesinnter also, die aber erst noch aus einem bis zu 10 000 Songs umfassenden Musiküberfluss in der Jackentasche gerettet werden musste.

Geheime Nachtmusik

Wie ein Song zum Lieblingssong wird, wie er überhaupt aus der unendlichen Kakophonie möglicher Melodien an das passende Ohr gelangt, dafür muss jede Generation neue Wege finden. Das noch nicht zu Tode formatierte Radio war lange prägend für diesen Prozess: Nur wer dort arbeitete, hatte halbwegs Zugriff auf die Fülle der Neuerscheinungen, konnte Abseitiges entdecken oder neue Musiker auf die Welt loslassen. Radio-DJs, die dafür ein Ohr hatten, versammelten bald eine kultische Hörgemeinde - enthielten ihre Playlisten doch geballtes Herrschaftswissen, ohne das eine Plattenbestellung in der Provinz zum Beispiel kaum denkbar war.

Eine ähnliche Funktion übernahmen später die Club-DJs, mit einem wesentlichen Unterschied: Hier sollte die Musik an den Künstler gebunden bleiben, an die Nacht, die Gemeinschaft und natürlich den Eintrittspreis - die Namen der Tracks und Musiker mussten daher mit abgedeckten Labels und abgekratzten Etiketten möglichst lange geheimgehalten werden.

Die Gegenwart versetzt jeden Computerbenutzer potentiell in die Lage des früheren Radio-DJs: Er kann sich Gigabytes an Musikdateien kopieren, vom Server ziehen, aus Musikblogs und Tauschbörsen laden - oder kostenlos und völlig legal von den Webseiten neuer Bands holen. So wird man zum Gott seines eigenen Musikgeschmacks - und ist gleich auch potentiell dazu aufgerufen, seine eigene Playliste im Netz zu publizieren.

Sei dein eigener DJ

Diese wird dann nicht nur zum öffentlichen Ausweis der Kennerschaft, sondern auch Flirtthema, Hilfsmittel zur Beziehungsanbahnung und echter, weil nicht durch Worte verfälschter Ausdruck der Persönlichkeit. Was früher noch in stundenlanger Arbeit als Mixtape für den Schwarm auf dem Pausenhof gestaltet wurde, ist heute dann einfach eine anklickbare Online-Liste - und erfüllt doch tendenziell noch denselben Zweck.

Es häufen sich aber die Zeichen, dass viele Menschen mit der Fülle der verfügbaren Musik und dem unausgesprochenen Druck, aus Tausenden von Songs nun die eigenen herauszufiltern, überfordert sind. Ipod-Besitzer kennen das: Da hat man noch eine halbe Stunde zuvor neue Platten auf das Gerät geladen und kann sich doch, wenn man es in der U-Bahn einschaltet, nicht mehr erinnern, welche das waren.

Suchend lässt man die Titel vorbeiziehen und bleibt schließlich wieder bei der uralten Lieblingsplatte hängen. Also bleibt nur, "Air" machen es vor, die Zufallstaste - und plötzlich ist man fast wieder beim Radio von anno dazumal: Jemand hat schon mal eine Vorauswahl vorgenommen, jemand dem man tendenziell sogar vertraut, und jetzt hören wir einfach mal, was kommt.

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