Musik:Der Saiteneinstieg

Der niederländische Frauenarzt Gerhard Boogard ist vom Cembalo besessen. Wie aus einem Amateur ein Instrumentenbauer wurde, der von renommierten Solisten geschätzt wird.

Von Marc Hoch

So wie Gerhard Boogaard jetzt in seinem Musikzimmer auf einem Cembalo spielt, könnte man ihn für einen Rentner halten, der endlich Zeit für sein Hobby gefunden hat. Träumerisch schlägt er Töne aus Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen an.

Doch es wäre falsch, diesen Mann für einen gemütlichen Senior zu halten. Der fast 70-jährige Niederländer ist vom Cembalo besessen. Er baut Instrumente, auf denen die berühmtesten Solisten ihres Faches spielen. Dabei ist Gerhard Boogaard weder studierter Musiker noch gelernter Instrumentenbauer. Er ist ein Gynäkologe, der fast zehntausend Kinder auf die Welt geholt hat. Wie aber gelangt ein Amateur, ein Autodidakt zu solcher Kunstfertigkeit? Und überhaupt: Cembalo? Wie kommt es, dass ausgerechnet dieses antiquierte Tasteninstrument eine derartige Leidenschaft auslösen kann?

Immerhin hat das Cembalo, eigentlich ein Zupfinstrument, einen merkwürdigen, etwas drahtigen Klang, der nicht nur auf Laien manchmal wirkt wie jener schrille Testton, der früher beim Sendeschluss ausgestrahlt wurde. Selbst unter Musikern steht das Cembalo, das in der Barockzeit seine Blüte hatte, nicht im allerbesten Ruf. Vom Dirigenten Wilhelm Furtwängler soll der Ausspruch stammen, dieses Instrument klinge, als schabe man mit einer Gabel an einem Vogelkäfig entlang.

Tagsüber holte er Kinder zur Welt. Abends bastelte er am Nachbau barocker Musikinstrumente

Gerhard Boogaard aber zählt zu jenen, die dem "Zauber des flimmernden und rauschenden Klanges" (Albert Schweitzer) voll erlegen sind. Das Instrument, auf dem er gerade die Goldberg-Variationen spielt, ist nur eines von vielen, die wie Museumsstücke in seinem Musikzimmer stehen, in einem Haus nahe der deutschen Grenze. Alle sind Nachbauten berühmter Cembali aus dem 18. Jahrhundert, und man sieht sofort, mit welcher Detailversessenheit sie ausgeführt wurden: Die Klaviaturen sind aus Mooreiche, Mammutzahn oder Knochen gearbeitet, die Resonanzböden in der Manier flämischer Maler mit Blumen und Vögeln versehen, und ganz besonders schön leuchten die schwarz-weißen Delfinmuster auf den Zargen. Auf einer steht, wer der Urheber dieser Kunstfertigkeit ist: "Gerhard Boogaard me fecit." ("Mich schuf Gerhard Boogaard.")

Boogaards Geschichte ist eng verknüpft mit der des vielleicht bedeutendsten Cembalobauers im 20. Jahrhundert: Martin Skowroneck aus Bremen, vor einem Jahr gestorben. "Als ich Anfang der Siebzigerjahre Assistenzarzt war, habe ich eine Cembalo-Aufnahme mit einem Instrument von Skowroneck gehört", erzählt Boogaard: "Für mich ging damals eine neue Welt auf, das war wie eine Revolution. So ein Instrument musste ich haben."

Skowroneck ist tatsächlich ein Revolutionär: Zu einer Zeit, als das Cembalo ohne Rückbesinnung auf die historische Tradition in der Manier eines modernen Flügels gebaut wurde, wurde der Mann zum Avantgardisten der Geschichte. Seit Mitte der Fünfzigerjahre baute er Instrumente, die an die vergessene Tradition der großen Cembalobauer wie etwa Christian Zell aus Norddeutschland oder der flämischen Familie Dulcken anknüpften.

Musik: "400 Jahre Garantie" gibt der Niederländer Gerhard Boogaard auf seine Instrumente aus Naturmaterialien.

"400 Jahre Garantie" gibt der Niederländer Gerhard Boogaard auf seine Instrumente aus Naturmaterialien.

(Foto: HOC)

Die leichtgewichtigen Holzkonstruktionen waren zur damaligen Zeit auch klanglich etwas Unerhörtes. Noch hatte die historische Aufführungspraxis, hatte die Alte-Musik-Szene nicht ihren Siegeszug angetreten, und deshalb schürten Skowronecks Cembali, für die er auch Federkiele und Schweineborsten verwendete, bei vielen Musikern damals in mechanischer Hinsicht Argwohn. Erst als der große niederländische Cembalist und Dirigent Gustav Leonhardt 1962 in Bremen ein Instrument in Auftrag gab, verbreitete sich Skowronecks Ruhm. Viele namhafte Musiker besitzen heute ein Instrument von "Sko". Leonhardt starb 2012, aber seine Auftragsarbeit steht heute im Musikzimmer des angesehenen Barockexperten Bob van Asperen. Nikolaus Harnoncourt und Skip Sempé, um nur einige zu nennen, besitzen ebenfalls eines der 89 Cembali, die Martin Skowroneck gebaut hat.

Auch Gerhard Boogaard, der in den Siebzigerjahren auf einem Fabrik-Cembalo spielte, wollte also so ein Instrument haben. Er fuhr nach Bremen, doch der Meister hatte für ihn nur eine schockierende Antwort parat. "Als ich ihn fragte, ob ich ein Instrument kaufen könne, antwortete er: ,Ja, sicher. Aber meine Lieferzeit beträgt 20 Jahre'" Zwanzig Jahre! Wahrscheinlich wären die meisten ungehalten geworden, Boogaard aber trug sich in die Liste ein und stellte Skowroneck die folgenschwere Frage, auf welchem Instrument er denn bis dahin spielen solle. "Ja, bauen Sie sich doch selber eins!"

So fing es an.

Tagsüber operierte der Frauenarzt, am Abend bastelte er in einer Werkstatt im Klinik-Keller. Erst waren es Cembalo- und Spinett-Bausätze, die er zusammensetzte (und an musikinteressierte Kollegen weiterverkaufte). Später machte Boogaard sich mit den Konstruktionen der großen flämischen und deutschen Vorbilder vertraut. Und bei all dem standen ihm Martin Skowroneck und dessen Weggefährte, der Cembalo-Bauer Klaus Ahrend, mit Ratschlägen zur Seite. "Es war wie eine richtige Lehre, langsam wurde ich Skowronecks Schüler", sagt Boogaard. Nach vier Jahrzehnten intensiven Studiums historischer Musikinstrumente ist der Niederländer nun selber ein kleiner Meister - nicht, um damit Geld zu verdienen, sondern aus Liebe zur Musik.

Seine Detailarbeit ist erstaunlich. Alle Teile, selbst die Holznägel, fertigt er selber. Die Holzstücke werden mit wasserlöslichem Knochenleim verleimt, wie er auch schon im 18. Jahrhundert im Instrumentenbau verwendet wurde. "Chemische Leime verlieren nach einigen Jahrzehnten ihre Bindungskraft", sagt Boogaard. "Auf meine Instrumente gebe ich aber eine 400-jährige Garantie."

Wie aufwendig ihr Bau ist, das zeigt sich auch beim sogenannten Springer, einem nur 15 mal 1,2 Zentimeter großen Holzstückchen, das den Klang des Cembalos erzeugt. Im Springer federnd eingelassen ist ein Zünglein, auf dem ein Plektrum sitzt - wohlgemerkt auf einer Breite von zwölf Millimetern. Die Mechanik funktioniert so, dass beim Tastenanschlag das Plektrum die Saite anreißt und den Klang verursacht. Nur: Welches Holz ist hart genug, damit es bei der Verarbeitung auf so kleinem Raum nicht gleich splittert? Und welche Federung ist ausdauernd genug, um der barocken Lust am Triller Genüge zu tun?

Musik: Gerhard Boogaard baut Instrumente, auf denen die berühmtesten Solisten ihres Faches spielen.

Gerhard Boogaard baut Instrumente, auf denen die berühmtesten Solisten ihres Faches spielen.

(Foto: HOC)

Boogaard verwendet für das mechanisch stark beanspruchte Zünglein hartes Elzbeeren-Holz und für das Zünglein Stechapfel. Als Federung setzt er Haare vom Nacken der Wildschweine ein. "Nylon-Fäden gehen schnell kaputt. Schweineborsten halten Dutzende Jahre", erklärt er. Mehr als 150 Springer braucht er für ein Cembalo. Arbeitszeit nur dafür: eine Woche.

Die Seele des historischen Cembalos aber ist der Resonanzboden, der weniger ein Boden als ein Deckel ist. Denn die historischen Tasteninstrumente folgten im Grunde der Architektur der Gitarre oder Laute: ganz unten der Boden, dann Luftraum, schließlich der missverständlich als "Resonanzboden" bezeichnete Deckel, auf dem die Saiten gespannt sind. Für Boogaard kann die klangliche Bedeutung des Resonanzbodens gar nicht hoch genug veranschlagt werden. "Das ist das Schwierigste beim Instrumentenbau", erklärt der Niederländer und fügt geheimnisvoll hinzu: "Jedes Brett klingt anders."

Von Geigenbauern seit Stradivari weiß man, dass sie mit einem Hämmerchen an Baumstämme schlagen und den Resonanzen lauschen. Instrumentenbauer brauchen ein Gefühl für die klanglichen Eigenschaften von Holz - eine feine Mischung aus Intuition und technischem Wissen, mit der auch Boogaard ans Hobeln der millimeterdünnen Brettchen für den Resonanzboden geht. Für ihn ist es wichtig, dass das Holz hart ist, in großer Höhe gewachsen und in der Mondphase abgeholzt wurde, "wenn der Saft im Stamm am geringsten ist". Am liebsten verwendet der Niederländer Fichte in der Tradition der großen flämischen Instrumentenbauer.

Die besten Cembalisten sagen: Dieser Mann hat ein besonderes Gespür für den Klang von Holz

Bob van Asperen, für den Boogaard bereits ein Spinett gebaut hat, lobt das "musikalische Fingerspitzengefühl" des früheren Frauenarztes und sagt, er habe ein gutes Gehör für Holz. Und auch der Cembalist Pieter-Jan Belder findet Boogaards letztes Instrument - ein norddeutsches Cembalo mit dunklem Klang - "ziemlich stark". Belder besitzt einen "Boogaard", auf dem er 2013 eine CD einspielte.

Was aber ist das Besondere am Klang? Das hat Boogaards Meister Martin Skowroneck schon vor Jahrzehnten so erklärt: "Das alte Cembalo klingt lauter und voller, dabei weicher und dunkler, doch mit großer Klarheit. Neben den stark ausgeprägten harmonischen Obertönen ist wesentlich mehr Grundton vorhanden. Der Ton ist intensiver, aber kaum aggressiv." Bob van Asperen bringt es auf die Formel, ein gutes Cembalo habe eine "milde Schärfe".

Und was sagt Gerhard Boogaard selber, dieser ungewöhnliche Mann? Er geht an eines seiner Instrumente und lässt lieber die Musik sprechen. Die Töne klingen schwungvoll an, sie wölben sich und führen den Besucher in die Zeit zurück, als Bach die Goldberg-Variationen schrieb. Wenn nur aus jeder privaten Leidenschaft so viel Schönes entstünde.

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