Musik:Avantgardist der Klänge

Musik: Helmut Lachenmann will Schock und Provokation nicht als Aufmerksamkeit erregendes Vehikel, er braucht ihn, um seine Hörer zum Nachdenken zu bewegen.

Helmut Lachenmann will Schock und Provokation nicht als Aufmerksamkeit erregendes Vehikel, er braucht ihn, um seine Hörer zum Nachdenken zu bewegen.

(Foto: Giovanni Dainotti)

Der Komponist Helmut Lachenmann wird 80 Jahre alt. Er hat verschiedene Geräusche in seine Arbeiten integriert. Seine Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" gilt als eines der Hauptwerke unserer Zeit.

Von Reinhard Brembeck

Endlich ein wenig Ruhe zum Sinnieren, und das gleich eine halbe Stunde lang. Helmut Lachenmann, der am heutigen Freitag 80 Jahre alt wird, ist der nachdenklichste unter den lebenden Großkomponisten. Einer, der seine Hörer immer erst freundlich in seine nach wie vor so völlig neuartig klingenden Stücke einlädt und ihnen dort gleich zu Beginn ganz gelassen all jene Klänge, Motive und vor allem jene verblüffend originellen Spieltechniken zeigt, die ihm den Ruf als radikalster aller Erneuerer eingebracht haben.

Lachenmann hat das Atmen und Kratzen, das Schaben, Wischen und Sätzezerhacken kunstfähig gemacht. Weil er all diese Geräusche, anders als so viele seiner Kollegen, nicht bloß als Girlande und Verzierung einsetzt, sondern gleichberechtigt wie herkömmliche Töne dem motivisch-thematischen Arbeiten unterwirft. Kein Komponist hat das Material, mit dem Musik gemacht wird, derart konsequent erweitert wie Lachenmann. Auch wenn das Neulinge immer erst einmal verblüfft - am Ende kann sich doch niemand der Ernsthaftigkeit, Leichtigkeit und Fantasie dieses Musikers entziehen.

Mit einem einstündigen Werk hat Lachenmann auf die Alpensinfonie von Strauss reagiert

Denn Lachenmann will den Schock und die Provokation nicht als ein Aufmerksamkeit erregendes Vehikel, er braucht ihn, um seine Hörer zum Nachdenken zu bewegen. Zum Nachdenken über die eigene Lage als Hörer, wird man doch in seiner Musik ständig auf sich selbst und auf die eigene Stellung in der Welt verwiesen. Was ist schön? Was gefällt, und warum gefällt uns anderes nicht? Inwiefern bin ich nicht nur in meinen Kunsturteilen, sondern in allen Belangen von Vorgaben abhängig, die mir von außen aufgezwungen werden?

Das sind die Fragen, die den Hörer auch beschäftigen, wenn er Lachenmanns halbstündige "Serynade" für Klavier hört. Das Stück ist erst fünfzehn Jahre alt, und das "y" im Titel verweist auf die Widmungsträgerin, Lachenmanns Frau Yukiko Sugawara, die das Stück für die Plattenfirma Kairos eingespielt hat. Lachenmann liebt es, den Klängen nachzuhorchen, und auch der Hörer hat oft lang nach Verklingen seiner Stücke das Gefühl, als würde ihr Echo in ihm selbst nachhallen und dabei die gängigen Denkstrukturen verändern.

Denn gängig ist Lachenmanns Musik nie, auch wenn sie sich aus ihren so nachdenklichen Anfängen gern ins Rasantgängige aufschwingt. So in "Mouvement ( - vor der Erstarrung - )" seinem berühmtesten Stück, dessen getriebener Impetus noch jedes Publikum begeistert hat. Wenn es live überhaupt zu erleben ist. Denn Lachenmanns Stücke erfordern das Erlernen vieler ungewohnter Spieltechniken, was herkömmliche Ensembles offenbar scheuen. Zu ihrem Schaden. Wo wäre schließlich sonst noch einmal ein Komponist, der das stürmische Musikantentum Rossinis mit der Tiefgründigkeit Schuberts zu verbinden wüsste - ohne auch nur eine einzige Klanggeste seiner Vorgänger zu zitieren, ohne je auch nur von Ferne die sonst überall noch blühende Dur-Moll-Tonalität zu bemühen?

Jahrelang hat der Stuttgarter Pastorensohn Lachenmann um seine Oper gerungen. 1997 kam dann "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" endlich in Hamburg heraus; es gilt seither, oft nachgespielt, als Klassiker. Lachenmann hat Hans Christian Andersens tödlich im Neujahrsschnee endende Sozialparabel nicht wie üblich in ein von Sängern dominiertes Stück verwandelt, er hat vielmehr 24 orchestral dominierte Musikbilder geliefert, in die Andersens Erzählung eingeschmolzen wird. Was Regisseure vor die denkbar schwersten Aufgaben stellt: Sie müssen das Märchen in Bildern erzählen und zugleich den Subtext dazu liefern. Der aber hat es in sich.

In einem Abschnitt hat Lachenmann einen Text Leonardo da Vincis vertont, der von Furcht und Verlangen spricht: " . . . zwei Gefühle . . . ". Es dreht sich dabei um eine beängstigende ästhetische Erfahrung. Mit diesem Text korrespondiert ein Text von Gudrun Ensslin, der ebenfalls eine vernichtende Dualität beschreibt: "die ausweglosigkeit des menschen im system: entweder du vernichtest dich selbst oder du vernichtest andere, entweder tot oder egoist."

Diese existenzielle Problematik hat Lachenmann immer beschäftigt. Nicht zufällig ging er zu Luigi Nono in die Lehre, nicht zufällig ist er der am heftigsten angefeindete unter den Komponisten. Aber er hat das Beharren auf seinen avancierten Positionen nicht mit Starrköpfigkeit und Erstarren im Formalismus gebüßt. Vor 30 Jahren schon, als Richard Strauss in Avantgardekreisen noch missachtet wurde, hat Lachenmann dessen unter der gefälligen Aufführungstradition verschütteten Nonkonformismus entdeckt, ja er hat Strauss beinahe wie seinen Bruder empfunden. Auf dessen einstündige "Alpensinfonie" antwortete Lachenmann mit der gleich langen Klavier-Orchester-Musik "Nachklang", die sich auf den letzten Abschnitt des Strauss-Stücks bezieht und ihn eigensinnig wie einen Schattentanz fortspinnt.

Vor zehn Jahren dann gelang Lachenmann mit den vierzigminütigen "Concertini" die Summe seines Wollens und Musikdenkens. Eleganter, klangschöner und versonnener hat sich noch kein in die Jahre gekommener Revolutionär zu den nach wie vor aktuellen Idealen und Ideen seiner Jugend bekannt. Lachenmanns Musik ist und bleibt eine bewusstseinsverändernde Klangdroge.

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