Musik auf YouTube:Per Anhalter durch die Galaxis

Von Goebbels bis Netrebko: Wer sich bei YouTube durch die Musikgeschichte klickt, erlebt Himmel und Hölle des Hörens - ein Selbstversuch. Mit Videos.

Wolfgang Schreiber

Zwischen E(rnst) und U(nterhaltend) verlief einst in der Musikbranche die große Demarkationslinie, kommerziell und bildungsbürgerlich, eine Abgrenzung, die vielen offen oder auch heimlich nützte - das vermeintlich E(wiggültige) gegen das mutmaßlich (U)ngebildete. Musiker selbst aber waren es, die sich weigerten, die Unterscheidung weiter mitzutragen: Es gebe nur gute oder schlechte Musik, Schubladen seien obsolet geworden. Seitdem herrscht musikalisch das Gesetz der Durchmischung, Überlagerung stilistischer und kategorialer Sphären, sogar derjenigen von Alter und Neuer Musik.

Musik auf YouTube: Eins der YouTube-Lieblinge: Anna Netrebko singt Dvoraks "Rusalka".

Eins der YouTube-Lieblinge: Anna Netrebko singt Dvoraks "Rusalka".

(Foto: Screenshot: YouTube)

Auf anderer ästhetischer Frontlinie scheint das musikalische Reinheitsgebot der peniblen Einteilung gültig geblieben zu sein, zwischen Live-Musik und Medienreproduktion. Das Konzert im realen Raum ist noch immer Fanal authentischen, wenn auch störungsanfälligen und relativ wenigen zugedachten Musizierens und Hörens. Der Opern- und Konzertsaal: Ort der ästhetischen Wahrheit für die Momentkunst Musik, der Einheit von Zeit und Raum im Tonkunstwerk, auch der Kontrolle künstlerischer Qualität. Davon, von der Faszination des emphatischen Augenblicks, leben die Festivals, die vielen Menschen so viel wert sind, dass sie dafür Zeit und Geld opfern.

Mit dem Phänomen der Einzigartigkeit können die Medien nur schwer mithalten, sie spielen in einer eigenen Raumzeit-Realität, mit anderen Vorzügen. Unendlich vielen bieten sie Zugang zu den Kunstwerken, die in technisch vermittelter Wiedergabe verkleinert erscheinen, fern gerückt.

Es fehlt ihnen das, was Walter Benjamin die "Aura" genannt hat. Freilich gehört die Banalisierung der Musik in den Medien zur Tagesrealität: durch ihren Funktionswandel, der sie für PR-Zwecke ins Netz der Interessen stellt, und durch ihre gnadenlose Fragmentierung, Zerfledderung. Dagegen erhob sich vor einiger Zeit öffentlicher Protest.

Fast-Food-Portionen der Klassik

"Das GANZE Werk", heißt eine Initiative, die gegründet wurde, um die geschredderte Musik in Kultursendern, speziell dem NDR und dem RBB, zurückzudrängen, den zuständigen Sendechefs gehörig einzuheizen.

Gefordert wird, dass in den Programmen während des Tages "in einer Dauer von mindestens vier Stunden ganze Werke gesendet werden, so wie es bisher üblich war". Die Initiatoren wollten verhindern, "dass der öffentlich-rechtliche Hörfunk mit dem aktuellen Häppchen-Mix der heranwachsenden Generation einen falschen Eindruck des musikalischen Erbes vermittelt und falsche Hörgewohnheiten fördert". So weit, so gut und heikel.

Aber lässt sich das Rad der Technik zurückdrehen? Nun hat das Internet-Portal YouTube die Musikzuteilung in Häppchenformat auch im Bereich klassischer Musik in einem Maße auf seine Fahnen geschrieben, dass dem Liebhaber und Nutzer der Kunstmusik im 21. Jahrhundert zunächst einmal die Luft wegbleibt.

Sind wir in die Frühzeit der Schallplatte zurückgekehrt, zur schwarzen Schellackscheibe mit ihren Fast-Food-Portionen der Klassik? Die sausende, zerbrechende Schellack hatte in ihrer Epoche nur - mit Vorder- und Rückseite - zwischen vier und acht Minuten Zeit, ihre Arien und Ouvertüren vorzuführen. Bei Symphonien und Opern mussten die Platten umgedreht und dann gewechselt werden.

Nun also: YouTube ist wie eine Schwester, offeriert aber andere Möglichkeiten - die des hemmungslosen Surfens, des abrupten Vergleichens durch die Musik- und Interpretengeschichte. Abenteuerlich, welche Durchblicke sich demjenigen öffnen, der neugierig, nervös von einem zum nächsten und übernächsten Hörfilmchen durchklickt. Vielfalt bringt Gewinn, Zerkleinerung Verlust.

Der genialische Glenn Gould ist bei YouTube auf rarem Filmmaterial zu sehen und zu hören, nicht nur mit der späten Version der Goldberg-Variationen, deren Online-Gesamtheit nur durch Hin- und Herpendeln zwischen Filmschnipseln zu erreichen ist.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, welche Glanzmomente der Musikgeschichte auf YouTube festgehalten sind - und sehen Sie die Videos dazu.

Per Anhalter durch die Galaxis

Er spielt in einem frühen privaten Probenmitschnitt im bürgerlichen Hause das Präludium aus Bachs Partita in c-Moll, wobei der Klavier-Teenager plötzlich vom Flügel aufspringt, nervös ans Fenster tritt, zurück am Klavier weiterspielt - und plötzlich wird der einzige Zuhörer ins Bild gerückt, der auf dem Teppich Platz genommen hat: Goulds getreues Haustier.

Die halbe Pianistengeschichte des 20. Jahrhunderts spielt für den YouTube-User in kleinen Ausschnitten, die er sich selbst zusammenstellt. Der verinnerlichte Preuße Wilhelm Kempff singt Beethovens Sonate op. 90, Emil Gilels, russischer Klaviertornado, stemmt Waldstein-Sonate und Paganini-Variationen, Svjatoslav Richter lässt Chopin und Ravel explodieren.

Und dann stanzt die junge Martha Argerich fast wütend, im roten Kleidchen, Chopins Préludes heraus, und der taufrisch brave Donnerer Kissin exekutiert Liszts horrende La Campanella-Etüde. Der junge Benedetti Michelangeli, der uralte Horowitz, der alerte Ivo Pogorelich - sie spielen ungeheuer erlesen Scarlatti, und nur Cziffra lässt den Liszt-Vulkan ausbrechen.

Dann versucht Daniel Barenboim, dem jungen Kollegen Lang Lang Beethovens Appassionata am Klavier nahezubringen: bitte mehr Linie und Akkord, Klang und Geist! Und Celibidache probt seelenruhig Bruckners Siebte, 1992 bei den Berlinern, so intensiv und eloquent, dass die Musiker aus dem ungläubigsten Sich-Wundern, Lächeln nicht herauskommen.

Wer sich entschließt, noch neugieriger zu klicken, kann Gespenstisches, Wechselbäder in deutscher (Musik-)Geschichte erleben. Der hört und sieht Furtwängler bei der Probe zu Schuberts Unvollendeter, beobachtet ihn beim Finale von Beethovens Neunter 1942 und auch, wie Goebbels ihm dafür dankbar die Hand schüttelt.

Kommunikationslos einsam dirigiert Karajan das Stück, ekstatisch Bernstein. Und dann taucht ganz kurz der "Führer" selbst auf, 1937 in Bayreuth, mit Winifred W. Fassungslos will man dann nur noch zum Donauwalzer, wie ihn so authentisch-nostalgisch nur Erich Kleiber vor dem Zweiten Weltkrieg dirigieren konnte, in Schwarzweiß.

Das Medium selbst ist es, das sich zu assoziieren, querzuverweisen scheint: Hat man den Film mit Erich Kleiber auf dem Schirm, erscheinen wie von Zauberhand die Fenster zu Sohn Carlos, ein Klick, und die "Donner und Blitz"-Polka des Johann Strauß sprüht herein.

Von Netrebko zu Bartoli und Garanca sind es kleine Sprünge, heraus kommen Fragmente ihrer Kunst. Aber ist nicht am bezauberndsten die junge Irmgard Seefried alias Mozarts Susanna in der schnippischen "Figaro"-Verkleidungsarie, 2. Akt?

Es gibt, wie bei Mozarts Ketten-Finali, Einträge, die sich als Ostinati durchschalten lassen, so bei der größten aller Mezzoarien Mozarts, dem "Parto, parto" des Sesto aus "La clemenza di Tito".

Die Todesangst des in Intrigen gegen den römischen Kaiser verwickelten jungen Mannes, aus entflammter Liebe zu der machtgeil attraktiven Vitellia, diese ganze umnachtete Arie mit der begleitenden Solo-Klarinette wird bei YouTube sechs oder sieben Mal serviert, teilweise nur rudimentär: gesungen von Teresa Berganza und Tatjana Troyanos, von Cecilia Bartoli und Angelika Kirchschlager, von Vesselina Kasarova und Elina Garanca.

Wer ist die Schönste und Wahrste im Mozart-Land, wer reißt den Herzabgrund dieses Sesto am tiefsten auf? In Mozarts "Aura" muss aber der Nutzer online selbst hineinfinden.

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