"Music never sleeps NYC":Die Klassikfamilie

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In der Großstadt New York ist momentan nur noch die Begegnung mit Familienmitgliedern und Mitbewohnern erlaubt. Also musizieren Klassik-Stars wie Nachwuchstalente aus meist kleinen New Yorker Apartments – wie früher in der Hausgemeinschaft.

(Foto: Musicneversleepsnyc)

Manche kritisieren das Not-Streaming als unbeholfen. Ein Projekt in New York zeigt vor allem die Kraft der Hausmusik.

Von Michael Stallknecht

Am Freitagabend um sieben Uhr örtlicher Zeit stehen Tausende New Yorker auf ihren Balkonen und in ihren Hauseingängen, um gemeinsam zu klatschen für all die Mitarbeiter im Gesundheitssystem, die derzeit Schwerstarbeit leisten.

Auch David Robertson und Orli Shaham klatschen um diese Zeit, freilich auf besonders musikalische Weise. Der Dirigent, bekannt vor allem für sein Engagement in der zeitgenössischen Musik, und seine Frau, eine Pianistin, performen gemeinsam das Stück "Clapping Music" für vier klatschende Hände von Steve Reich in ihrem Wohnzimmer, während ihnen die Welt dabei zusehen kann. Schließlich müssen sie gerade wie alle anderen New Yorker zu Hause bleiben, statt Konzerte rund um den Globus zu geben. Stattdessen beteiligen sie sich an einem Projekt, wie es die musikalische Welt noch nicht erlebt hat: einem 24-stündigen Dauerstream aus den musikalischen Wohnzimmern New Yorks. "Music never sleeps NYC" lautet die Botschaft, die am Ende knapp einhundert Musiker von Freitag- bis Samstagnacht hiesiger Zeit auch nach Deutschland brachten.

In den vergangenen Tagen ist New York, die heimliche Hauptstadt der westlichen Hemisphäre, so sehr zum Epizentrum des Coronavirus geworden, wie es für Asien Wuhan war: Mit mehr als 50 000 Fällen verzeichnet die Stadt die momentan höchste Rate von Infizierten in einer US-amerikanischen Stadt.

Seit über zwanzig Jahren wohnt hier auch der Cellist Jan Vogler, der gleichzeitig, etwa als Leiter der Dresdner Musikfestspiele, auch seiner Heimat im deutschen Osten eng verbunden geblieben ist. Er habe immer die Gelassenheit der New Yorker selbst in Ausnahmesituationen bewundert, sagt er am Telefon, bevor das Streaming-Konzert losgeht. Vor gut einer Woche hat er einen kühnen Plan gefasst: der Welt zu zeigen, welche kreative Kraft auch in der Krise in dieser Stadt steckt. "Wenn wir den Geist von New York momentan schon nicht leben können, dann wollen wir ihn wenigstens musizieren."

In der Krise kehrt die Musik zu ihren Ursprüngen zurück

Also begann Vogler, seine New Yorker Freunde durchzutelefonieren, ob sie sich an dem Projekt beteiligen wollen. Die meisten hätten binnen Minuten zugesagt, erzählt er. Viele Prominente sind dabei, und, bei einem Cellisten wie Vogler berufsbedingt, viele Streicher: So spielt Midori vor einer japanischen Wandtapete Johann Sebastian Bachs Erste Partita für Violine solo, und der Countertenor Anthony Roth Costanzo begleitet sich selbst beim Klagegesang der Dido aus Henry Purcells "Dido und Aeneas" am Klavier. Manche Beteiligte finden auf technisch avancierte Weise eine Brücke zueinander wie der Mandolinist Chris Thile und die Brüder Eric und Colin Jacobson, die gemeinsam, verbunden nur durch das Internet, ein Arrangement von Bachs Doppelkonzert für zwei Violinen spielen.

Doch in vielen Fällen erweist sich das Musizieren in den Zeiten der Ausgangssperren so überraschend als Familienangelegenheit, wie es das schon zu Bachs oder Mozarts Zeiten war. So musiziert der Geiger Joshua Bell gemeinsam mit seiner Frau, der Opernsängerin Larisa Martinez; Gil Shaham tritt gemeinsam mit seiner Frau Adele Anthony an, die wie er Violine spielt.

Auf bemerkenswerte Weise revitalisiert sich die längst totgesagte Hausmusik, und damit werden auch Formen des Arrangements belebt, wie sie schon im 19. Jahrhundert unter musizierenden Familien und Freunden üblich waren. Gibt es in einer Familie wie der des Bratschers Misha Amory zum Beispiel kein Cello, dann spielt man ein Klavierquartett von Brahms eben stattdessen mit zwei Violen. Technisch durchgängig auf unbestreitbarem Niveau, findet Musik in der Krise in diesen 24 Stunden zu ihren Ursprüngen in einem freien Musizieren zurück: Genregrenzen werden von klassischer Basis aus mühelos übersprungen, Originale mischen sich mit Bearbeitungen und Improvisationen. Vogler hofft, dass auch andere Städte das Konzept aufgreifen werden, zum Beispiel Berlin.

"Music never sleeps NYC" ist das bislang beeindruckendste unter den vielen Überlebenszeichen, die die Klassik in den Zeiten der Konzertsaalschließungen zu geben versucht. In den vergangenen zwei Wochen sind Streamingangebote in einer Fülle aus dem Boden geschossen, die fast schon so unüberschaubar ist wie davor die Zahl der Konzerte und Opernaufführungen. Viele Opernhäuser und Konzertsäle haben ihre Archive geöffnet und machen ungeahnte Raritäten zugänglich. Die großen Plattenfirmen schicken ihre Lieblinge zum digitalen Schaulaufen, aber viele Musiker streamen auch einfach selbst von daheim in die sozialen Netzwerke.

An dem daraus resultierenden Aufmerksamkeitswettbewerb ist inzwischen auch Kritik laut geworden. Wohl nicht zufällig war der um Aufmerksamkeit aller Art kaum verlegene Pianist Igor Levit mal wieder der erste, der regelmäßig Konzerte aus dem Wohnzimmer zu streamen begann. In sozialen Netzwerken und Internetmusikmagazinen wird heiß diskutiert, ob von der Digitalisierung nicht vor allem die ohnehin Marktkräftigsten profitieren. Und ob es fair ist, dass angesichts der Vielzahl kostenloser Angebote Musiker in einer Zeit wegbrechender Konzerthonorare nicht mal mit dem Streaming Geld verdienen können. Umstritten ist einmal mehr auch die Verwertungsgesellschaft Gema, die für zeitgenössische Werke weiterhin Tantiemen kassiert, mit denen sie nach eigener Darstellung wiederum die Komponisten über Wasser halten will.

Hier weht ein demokratischer Geist - zwischen Wohnzimmer und Globalisierung

Die New Yorker Streamingnacht zeigt aber auch, dass solche Debatten gerade nicht das Wichtigste sind. Natürlich muss Musikern jetzt monetär geholfen werden, aber für die meisten von ihnen gibt es für sie eine zweite, ideelle Ressource, die genauso wichtig ist wie Geld: gehört zu werden, spielen zu dürfen. "Wie haben momentan alle das Gefühl, dass wir wieder einen Lebenssinn haben", sagt Jan Vogler vorab im Telefonat, "weil wir wissen, dass wir ein großes Publikum haben werden." An den vielen Einzelaktionen im Internet stößt sich auch er, weshalb er auf einen "Egotrip" bewusst verzichtet hat. Stattdessen wollte er den guten Geist eines Festivals beschwören, Musiker mindestens virtuell zusammenbringen, die in der realen Konzertsaalwelt nicht miteinander spielen können und dort oft auch Konkurrenten sind.

Deshalb hat Vogler nicht nur Prominente eingeladen, sondern auch viele Musiker in der Ausbildung oder am Karrierebeginn. "In der Krise sitzen Stars und Anfänger im selben Boot", lautet seine Überzeugung. So spielt Nathan Meltzer, Violinstudent an der Juilliard School, die neue Komposition einer Kommilitonin, und der atemberaubend begabte Cellist Zlatomir Fung sendet mit drei Capricen von Joseph Dall'Abaco und der "Sequenza XIV" von Luciano Berio einen Gruß an das ebenfalls schwer gebeutelte Italien. Es gibt vieler solcher rührender Momente in dieser Nacht, etwa wenn der 63-jährige Jeffrey Kahane, allein am Flügel in seiner Wohnung, über "America the Beautiful" improvisiert. Vor allem aber ist es der demokratische Geist Amerikas, der hier wieder zur Sinnressource in schwierigen Zeiten wird: Jung und alt können die Krise nur gemeinsam überwinden.

Dinge wie Akustik und Übertragungsqualität, die sonst für Klassikhörer höchste Priorität besitzen, werden darüber eigentümlich zweitrangig. Dass das Streaming das gemeinsame Konzertsaalerlebnis nicht ersetzen kann, ist allen Beteiligten ohnehin klar. Die Übertragung zur besten Schlafenszeit unterstreicht sogar, dass auch in Zukunft keine noch so interessante Streamingkonserve für den Akt des Livemusizierens wird einspringen können. Das Meiste wird in Realzeit übertragen, nur in schwierigen Fällen hat man es wenige Stunden vorher aufgezeichnet, weil etwa die Geigerin Midori in einem Haus mit zu schwacher Internetverbindung wohnt.

Über kleinere, angesichts der Vorbereitungszeit erstaunlich wenige technische Pannen moderiert Jan Vogler souverän hinweg. Wohl aber lässt das Streaming in der Krise eine neue Dialektik zwischen Globalisierung und Regionalisierung, zwischen der endlosen Internetwelt und den Wänden des eigenen Wohnzimmers spürbar werden, die wohl auch über die Extremsituation hinaus die Gegenwart bezeichnet. Das musikalische Herz des weltweiten Klassikdorfs schlug jedenfalls an diesem Wochenende in New York, wo die Epidemie anrollt. Eine so traurige wie tröstende Botschaft.

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