Museumsspaziergang:Dampfer am Horizont

Susie Hodge hilft uns, die Rätselhaftigkeit großer Kunst aufzulösen, indem sie einen Einblick in die Vielfalt bildnerischer Möglichkeiten gibt - und ihre Besonderheit und die Geschichte ihrer Entstehung erklärt.

Von Gottfried Knapp

"Wieso sind die alle nackt?" Die Frage, die im Titel dieses kleinen Lehrbuchs zur Kunst gestellt wird, lenkt den Blick ein wenig zu spekulativ in eine bestimmte Richtung. Auf den rund 100 Abbildungen ganz unterschiedlicher Gemälde und Bildwerke, die über das Buch verteilt sind, ist überhaupt nur viermal ein nackter Körper zu sehen. Man hält sich also besser an den Nachsatz "Und andere spannende Fragen zur Kunst". Tatsächlich sind fast alle anderen Fragen, die vor den abgebildeten Kunstobjekten gestellt werden, spannender und ergiebiger als die eine, die den Titel ziert.

Die englische Kunstvermittlerin Susie Hodge hat sich die Aufgabe gestellt, anhand einzelner sprechender Werke eine Vorstellung von der Vielfalt bildnerischer Darstellungsmöglichkeiten zu geben. Sie versucht erst gar nicht, eine zeitliche oder stilistische Ordnung herzustellen. Mit gezielten Fragen und Neugier weckenden Stichworten, die von der Grafikerin Claire Goble groß neben die Abbildungen gestellt werden, lädt die Autorin ihre jungen Leser dazu ein, in den vorgelegten Bildern und Objekten auf Suche zu gehen, egal ob gerade eine altägyptische Wandmalerei zu sehen ist, ein Gemälde von Botticelli, Holbein oder Magritte, das Urinoir von Marcel Duchamp, der frühmittelalterliche Teppich von Bayeux, Graffiti von Banksy, eine Skulptur von Henry Moore oder eine Luftaufnahme der Inseln, die der Verpackungskünstler Christo mit Stoff umrandet hat. Mit wenigen Sätzen werden die Besonderheiten der Objekte erklärt und die Umstände ihrer Entstehung angedeutet. So gelingt es der Autorin, Interesse zu wecken für Dinge, die auf den ersten Blick wie Rätsel auf den Seiten stehen.

Man könnte das Buch also als eine Anleitung zum Sehen und eine Anregung zum Nachdenken über Gesehenes bezeichnen. Warum beispielsweise haben manche Maler ganz unscharfe Bilder gemalt und was wollten sie damit erreichen? Der Engländer William Turner hatte jedenfalls, als er ein Dampfschiff im Seesturm malte, ganz andere Absichten als die französischen Impressionisten, wenn sie eine junge Frau im sommerlich hellen Wohnzimmer malten, oder der Deutsche Gerhard Richter, wenn er ein Gemälde wie ein verwackeltes Schwarz-Weiß-Foto aussehen ließ.

Wie unterschiedlich Künstler selber auf die Werke ihrer Kollegen reagiert haben, wird an zwei Beispielen vorgeführt. Im Jahr 1953 hat der englische Maler Francis Bacon das berühmte Porträt, das der Spanier Diego Velázquez 300 Jahre zuvor von Papst Innozenz X. gemalt hat, in einzelnen Details so abgewandelt, dass man vor dem entstandenen Schreckensbild, vor dem Mann mit dem aufgerissenen Mund, Angst bekommt.

Ganz anders hat Claude Monet reagiert, als er sich durch einen Farbholzschnitt des Japaners Hokusai zu einer sehr spezifischen Ansicht eines Gartens im Seebad Sainte-Adresse anregen ließ. Bei Monet wie bei Hokusai geht der Blick der Menschen, die an einer Brüstung stehen, über eine weite Wasserfläche hinaus auf den Horizont. Bei Hokusai erhebt sich jenseits einer weiten Meeresbucht der Berg Fuji in den Himmel. Und bei Monet bildet eine Kette von Dampfern den Horizont, also die Grenze zwischen Meeresoberfläche und Himmel. In unserem Buch sind die zusammengehörenden Bilder so neben- oder übereinandergestellt, dass das Hin- und Herwandern mit den Augen besonders leicht fällt.

Susie Hodge: Warum sind die alle nackt? Und andere spannende Fragen zur Kunst. Aus dem Englischen von Johanna Ellsworth. Knesebeck Verlag, München 2017. 96 Seiten, 14,95 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: