Museum für Kommunikation:Wir haben doch Zeit

Zeit - Ausstellung 'Tempo, Tempo!' in Berlin

Die Ausstellung "Tempo Tempo!" in Berlin zeigt, wie sich Zeitbewusstsein und Zeitordnung im Laufe der Jahrhunderte wandelten.

(Foto: dpa)

Viele Menschen haben das Gefühl, immer weniger Zeit zu haben: für die Familie, für sich selbst, sogar für die Arbeit. Dabei haben wir rein rechnerisch immer mehr Freizeit. Woher kommt der permanente Zeitdruck? Eine Ausstellung geht der Frage nach.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Die Männer treten immer in Gruppen auf. Sie haben aschfahle Haut, graue Anzüge, graue Hüte und immer verbreiten sie Angst und Schrecken. Denn die "grauen Herren" aus Michael Endes Roman "Momo" stehlen den Menschen die Zeit - um sie in der Zigarre zu rauchen; davon leben sie.

Wie hochaktuell der inzwischen verstorbene Kinder- und Jugendbuchautor Michael Ende mit diesem Thema (ebenso wie mit seiner kindgerechten Kritik an einem Wirtschaftssystem, das die Menschen ausbeutet) heute sein würde, konnte er vor exakt 40 Jahren, als "Momo" erschien, nicht vorhersehen. Damals hatte er schon die Abenteuer um "Jim Knopf" verfasst, später sollte die "Unendliche Geschichte" folgen und weitere mehrfach ausgezeichnete Bücher. Doch es ist der Roman "Momo", der erstaunlich genau auf den Punkt bringt, was die Menschen von heute umtreibt: Viele verfolgt das Gefühl der permanenten Zeitknappheit.

Diktat der Beschleunigung

Dabei müsste es eigentlich anders sein. Die Menschen leben länger als je zuvor, rein statistisch gesehen stehen den meisten also mehr Lebensjahre zur Verfügung. Erwerbstätigkeit ist durch die Flexibilisierung der Arbeitswelt zwar nicht mehr so stark geregelt wie in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, vor allem ist die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit fließender geworden. Trotzdem steht vielen Berufstätigen rein rechnerisch mehr Freizeit zur Verfügung als je zuvor. Und vielen anderen - ungewollt - ebenfalls: durch Arbeitslosigkeit.

Woran liegt es also, dass heutzutage schon Teenager darüber klagen, kaum Zeit für irgendetwas zu haben, dass Burn-Out und Depressionen um sich greifen, weil die Menschen sich keine Zeit für sich selbst nehmen? Die Technik muss oft für Erklärungsansätze herhalten: Das Smartphone und die damit verbundene durchgängige Erreichbarkeit stehle den Nutzern die Kontrolle über ihr Leben. Von Fremdsteuerung und Entfremdung von sich selbst durch einen strikt durchgetakteten Terminkalender ist die Rede. Andauernd müssten wichtige Mails gecheckt werden, auch nachts und am Wochenende, wodurch die Erholungspausen immer weiter schrumpften und der moderne Mensch nicht mehr zur Ruhe komme.

Das Museum für Kommunikation in Berlin hat jetzt einen anderen Zugang gefunden: den historischen. Die aktuelle Ausstellung "Tempo Tempo! Im Wettlauf mit der Zeit" widmet sich auf 500 Quadratmetern und mit 250 Exponaten dem Phänomen der Beschleunigung.

Das aus heutiger Sicht Überraschende: Nicht erst seit es moderne Kommunikationsmedien gibt, klagen Menschen über Zeitprobleme. Das Museum spannt den Bogen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart und zeigt, wie die Beschleunigung des Lebens immer weiter vorangetrieben wurde - aus ökonomischen Gründen.

Von einem "Diktat der Beschleunigung" ist die Rede und davon, wie sich das Leben in den letzten Jahrhunderten unter dieser Zielvorgabe verändert hat - teils unbemerkt vom öffentlichen Bewusstsein und doch immer genau vor der Nase jedes Einzelnen.

Zeit wurde zu Geld und damit knapp

Die Ausstellung beginnt in der Zeit um 1500. Im Spätmittelalter treiben Kaufleute den Ausbau des Botenwesens voran. Sie haben erkannt: Zeit ist Geld. Bis dahin hatten die meisten Menschen noch keinen Nutzen in der Schnelligkeit gesehen. Die Natur und die Grenzen ihrer Körperkraft hatten sie zur Langsamkeit erzogen. Schon seit dem ausgehenden Mittelalter aber treten immer mehr Menschen in den Wettlauf mit der Zeit.

Denn nun wurde mit der Erfindung des Postwesens (durch Thurn und Taxis 1490) das Tempo des Nachrichtenverkehrs erheblich gesteigert. Indem anstelle einzelner Postboten eine Kette von Postreitern eingesetzt wurde, sparte sich das Unternehmen die Erholungszeiten des Personals. Von Mitte des 17. Jahrhunderts an wurden neben Briefen und Waren auch Personen befördert. Bis ins 18. Jahrhundert wurden einzelne Postlinien zu einem Netz verknüpft - schließlich führte die Post allgemeingültige, regelmäßige Fahrpläne ein. Von ihren Angestellten erwartete sie Pünktlichkeit und Schnelligkeit; andere Fahrzeuge mussten reitenden und fahrenden Posten laut königlicher Verordnung von 1747 ausweichen. Missachteten sie das Posthorn, drohten hohe Bußgelder.

Bahnbrechende 40 km/h

Im 19. Jahrhundert versetzte die Eisenbahn die Menschen in einen Geschwindigkeitsrausch: Mit Maschinenkraft, so zeigte die bahnbrechende Erfindung, ließ sich das Tempo weiter steigern. Reisende genossen die vorbeifliegende Landschaft - und befürchteten zugleich, das Tempo könne ihnen schaden. Weil der menschliche Körper für eine solche Geschwindigkeit nicht geschaffen sei. Die Bahn brachte es damals auf ganze: 40 km/h.

Wie sich seitdem durch immer effizientere Organisation und neue Maschinentechnik die Transportzeiten für Waren, Personen und Informationen immer weiter verkürzten und wie mit der steigenden Mobilität die Uhr zum unentbehrlichen Kontrollinstrument wurde, nach dem sich immer mehr Menschen richten mussten, zeigt die Ausstellung in knapper und informativer Form anhand von Schautafeln und Ausstellungsstücken. Da gibt es Messgeräte zur Überprüfung von Paketlaufzeiten oder altertümliche Apparate zur Übertragung von Börsendaten.

Zeit - Ausstellung Tempo, Tempo! in Berlin

Alte Handys in der Ausstellungsvitrine: Sie alle waren mal hochaktuell - und sollten ihren Käufern dabei helfen, schneller zu kommunizieren.

(Foto: dpa)

Und dann kam die Werbung. Wie tief sich das "Diktat der Beschleunigung" in das (Unter-)Bewusstsein gegraben hat, ist am anschaulichsten an der Gegenüberstellung von alter und neuer Werbung, von alten und neuen Produktnamen abzulesen. Geradezu drollig erscheint aus heutiger Sicht Werbung der fünfziger und sechziger Jahre, die von Hausfrauenglück durch Staubsaugererwerb und heilen Ehen dank weißer Wäsche erzählt. Doch die Ausstellung zeigt, dass wir auch heute - noch meist unbemerkt - auf Produkte zurückgreifen, die uns ein besseres, sorgenloseres, weil effizienter genutztes Leben versprechen. "Quick'n'clean" muss auf dem Waschgel stehen, "fix" muss die Nudelsauce fertig sein, "express" soll der Kakao zuzubereiten sein, und während die Produkte früher schlicht "Blitz" und "Fix" hießen, wird heute noch ein verstärkender englischer Begriff dazu kombiniert. Über allen alten und neuen Exponaten thront: das "Tempo", der Inbegriff von Markenbildung und Verschmelzung von Markenname, Produkt - und dem unbedingten Willen zur Beschleunigung.

Zeitfresser lauern überall

Dass viele zur Vereinfachung des Alltags entworfenen Produkte auf den zweiten Blick eher zu mehr Belastung des Einzelnen geführt haben, spart die Ausstellung nicht aus. So war etwa die Erfindung der Waschmaschine für den Einzelhaushalt ein Riesenschritt. Allerdings änderten sich damit auch die hygienischen Standards, was dazu führte, das in Folge viel öfter gewaschen wurde.

Es ist die Stärke dieser Ausstellung, die auch davon berichtet, wie sich Menschen immer wieder für Entschleunigung und Ruhepausen stark gemacht haben, dass sie den Besucher nicht überfrachtet. Das wäre dem Thema auch nicht angemessen.

Zum Schluss des Rundgangs, der von der Professionalisierung der Post über die Aufstellung immer neuer Weltrekorde und den Rausch der Geschwindigkeit in Sport und Transport bis zu den Auswüchsen der heutigen Informationsgesellschaft und Finanzkollapsen reicht, sind die Besucher selbst gefragt: Welches sind Ihre größten Zeitfresser? Was würden Sie tun, wenn Sie vier Wochen lang überhaupt nichts tun müssten? Wofür hätten Sie gerne mehr Zeit? Antworten auf diese und weitere Fragen sollen die Besucher in große weiße Bücher eintragen - oder mit nach Hause nehmen, um weiter darüber nachzudenken.

Denn - so schwierig es auch sein mag, seinen eigenen Zeit-Rhythmus dem von der Gesellschaft geforderten täglich anzupassen: Am Ende ist man selbst für die Ein- und Aufteilung seiner eigenen Zeit verantwortlich. Trotz aller Beeinflussung, "Diktat" oder Zeitgeist: Der Mensch hat schlussendlich selbst in der Hand, womit er einen Großteil seiner Zeit verbringt. Er muss sich das nur immer wieder mal in Erinnerung rufen. Diese Ausstellung hilft dabei.

Womöglich kann man danach Stefan Raabs ständige Wiederholung des Satzes "Wir haben doch keine Zeit" bei "TV Total" als das sehen, was sie ist: als auf der einen Seite der Wirtschaft (Werbepause) geschuldet. Auf der anderen Seite: schlicht ein Witz.

Momos "graue Herren" im Übrigen wurden am Ende durch ein kleines Mädchen mit großen Augen und wirren Locken besiegt. Die Zeitfresser, sie lauern inzwischen wirklich an jeder Ecke. Doch sie kriegen nicht jeden.

"Tempo Tempo! Im Wettlauf mit der Zeit" läuft noch bis 1. September 2013 im Museum für Kommunikation, Leipziger Straße 16, Berlin. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, begleitende Führungen, Lesungen und Workshops zum Thema Zeitmanagement und Beschleunigung unter http://www.mfk-berlin.de

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