Münchner Kammerspiele:Doppelte Wahrheit

Münchner Kammerspiele: Über Musik finden sie schließlich zusammen: Wiebke Puls (li.) und Kassandra Wedel in "Luegen".

Über Musik finden sie schließlich zusammen: Wiebke Puls (li.) und Kassandra Wedel in "Luegen".

(Foto: Franz Kimmel)

Reizend: "Luegen" mit Wiebke Puls und Kassandra Wedel im Werkraum

Von Egbert Tholl

Man erfährt hier verschiedene interessante Dinge, die wahr sein können oder nicht, das kann man sich selbst raussuchen. Wiebke Puls hat sich ihre Nase des Öfteren gebrochen, wäre ohne Hormone noch viel größer geworden, als sie ohnehin schon ist, nämlich 2,13 Meter, und außerdem hatte sie als Kind zwei verschieden farbige Augen, doch das eine wurde mittels Operation dem anderen angeglichen. Kassandra Wedel wollte ursprünglich Agentin werden, jetzt ist sie Tänzerin und Schauspielerin. Das Agentinnendasein traute man ihr sofort zu, denn erstens gäbe sie ein gutes Bond-Girl ab und zweitens kann sie von den Lippen lesen. Kassandra Wedel ist gehörlos.

Aber sie kann sprechen. Auf zweierlei Arten. Mit ihren Händen, ihrem Körper und ihrem Gesicht, also Gebärdensprache, sie kann aber auch reden. Worauf Wiebke Puls die Frage stellt, ob Kassandras Reden denn authentisch sei, wenn sie gar nicht hört, was sie sagt. Kassandra Wedel hat aber auch ein Hörgerät, das sie allerdings als Lüge empfindet, weil wenn sie es trägt, alle glauben, sie könnte hören, aber das stimmt ja nicht. Angesichts dessen spinnt Wiebke Puls einen Authentizitäts-Monolog weiter, der sich allerdings bald in einem großen, sehr ansteckenden Grinsen verliert, denn schließlich ist sie Schauspielerin, und zwar eine brillante, sie ist also oft eine andere Person, die wiederum viel mit ihr selbst zu tun hat, wie viel, das kann man dann so oder so sehen, je nach Rolle. Oder Figur. Oder Wiebke Puls.

Verena Regensburger hat ihr Regieassistentinnen-Diplom gemacht. Es heißt "Luegen" und findet im Werkraum der Kammerspiele statt. Es ist schön. Zwar beginnt die Aufführung ein bisschen klugscheißerisch mit viel projiziertem Text, aber das ist schnell vorbei, und dann wird man Zeuge einer ziemlich zauberhaften Begegnung der beiden Damen. Das Lügen hier ist das gebrauchsorientierte Verhältnis zur Wahrheit, das oft eine Begegnung zweier Menschen bestimmt. Die beiden hier sind erst einmal gleich, tragen zunächst Fechtmasken und sind gleich groß, doch kaum schlüpfen sie aus ihren Schuhen, geht Wedel Puls kaum bis zur Schulter. Dazu kommt die Unterschiedlichkeit der Kommunikation. Puls lernt Lippenlesen, klappt nicht, Puls lernt Gebärdensprache, klappt besser, Wedel spricht, stumm und mit Worten. Und schließlich finden sie über die Musik zusammen. Erst Beatles, das "Weiße Album", muss sein bei Wiebke Puls, Wedel legt die Hand auf den Lautsprecher des kleinen Plattenspielers, fühlt die Musik. Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist. Dann machen sie dies zusammen, Musik, bauen über Echoschleifen einen Song, Wedel tanzt, Puls tanzt, beide singen - und zwischen ihnen ist keine Lüge, nichts Falsches mehr.

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