"Mozart in the Jungle":Sex, Drogen und Symphonien

Die amerikanische Oboistin Blair Tindall hat ein Skandalbuch über die klassische Musikszene geschrieben.

Andrian Kreye

In den New Yorker Orchestergräben wird derzeit die Autobiografie einer ehemaligen Oboistin der New Yorker Philharmoniker mit derselben gekünstelten Empörung herumgereicht, mit der man sonst die sexuellen Entgleisungen berühmter Zeitgenossen kolportiert. Blair Tindalls "Mozart in the Jungle" beschreibt die klassische Musikszene vollkommen respektlos. Vor allem aber: Sie nennt Namen. Und selbst dort, wo die Namen fiktiv sind, ist allen Beteiligten klar, wer wann mit wem geschlafen hat, wer Drogen nimmt - und wer alles gleichzeitig getan hat.

Die Szene mit der Blair Tindall ihr Buch eröffnet, klingt dann auch wie ein Ausschnitt aus Robert Franks verbotener Rolling-Stones-Doku "Cocksucker Blues". Irgendwo dort, wo das Bürgerviertel der Upper Westside in das Ghetto von Harlem übergeht , begleitet sie als frischgebackene Philharmonikerin eine Freundin in eine heruntergekommene Wohnung, in der Orchesterkollegen auf einem abgewetzten Sofa herumlungern, Kokain schnupfen und in voller Lautstärke Wagnereinspielungen anhören.

Mozart-Probe endet mit Gruppensex

Sie amüsieren sich über die "Torpedotitten" der Walküre und fachsimpeln leidenschaftlich über die Blechblasinstrumente der Wiener Philharmoniker, während sich einer der Musiker eine Prise Kokain auf Blair Tindalls Zehennagel legt.

Solche Szenen beschreibt sie oft. Da ist die Begegnung mit Zubin Metha in einem Aufzug, während der sie sich wegen ihres Katers fast übergeben muss. Die Probe zu Mozarts Oboenquartett, die als Gruppensex endet. Die Schubertsymphonie im Drogenrausch. Die Affäre mit dem verheirateten Oboisten des Orpheus Kammerorchester. Petting im obersten Balkon der Carnegie Hall.

Dementi fördern Interesse

Sie beschreibt die sexuellen Eigenheiten bestimmter Instrumentalisten (Geiger neigen demnach zu schnellem Vollzug, Hornspieler kämpfen mit Potenzproblemen), und die karrierefördernde Nebenwirkung von Sex mit wichtigen Männern. "Warum hatte ich überhaupt einen Anrufbeantworter?", schreibt sie. "Die meisten Jobs ergatterte ich ja sowieso im Bett."

Das liest sich bei allen stilistischen und journalistischen Schwächen alles sehr vergnüglich. Die ersten Dementi haben das Interesse auch eher gefördert. So hat der Dirigent des Boston Pops Orchestra Keith Lockhart eine Erklärung abgegeben, der One-Night-Stand mit Frau Tindall habe nie stattgefunden.

Und der erste Oboist der New Yorker Philharmoniker Joseph Robinson schreibt in einer Leserkritik auf der Seite des Onlinebuchhändlers Amazon: "In meiner Rolle als Lehrer habe ich Blair Tindall über acht Jahre hinweg in ehrenhafter Weise alle wichtigen Karrieretüren geöffnet. Ihr entlarvendes kleines Buch zeigt, dass sie diese auch erfolgreich durchschritten hätte, wenn sie mehr Zeit im Übungsraum und weniger Zeit stoned im Schlafzimmer verbracht hätte."

Alltag symphonischer Honorarknechte

Jenseits der pikanten Details fühlen sich aber viele Musiker von diesem Buch verstanden, weil "Mozart in the Jungle" erstmals den ganz und gar unglamourösen Alltag symphonischer Honorarknechte beschreibt, der sich in New York zwischen ekstatischer Musikbegeisterung und nervtötenden Jobs in den Musicalorchestern am Broadway, zwischen glorreichen Momenten in weltberühmten Konzertsälen und heruntergekommenen Kleinstwohnungen abspielt. Und was den Orchestermusikern offenbar wirklich aus der Seele spricht, ist Blair Tindalls beißende Analyse der kultur- und finanzpolitischen Entwicklungen in der klassischen Musik.

Tindall beginnt in den Frühzeiten Amerikas, beschreibt das puritanische Misstrauen gegenüber der europäischen Musik, den Aufbau der klassischen Musikausbildung an amerikanischen Universitäten, bis hin zu den Konjunkturperioden, in denen die Konzerthallen und Orchester zu prestigeträchtigen Spielbällen der Mäzene wurden. Es seien vor allem die Wirtschaftswunderjahre der neunziger Jahre gewesen, in denen die Orchesterwelt in ein knallhartes Zweiklassensystem gespalten wurde, schreibt sie.

Auf der einen Seite die Dirigenten und Solisten, die - von Orchestervorständen umworben und von der Presse gefeiert - siebenstellige Gagen kassieren. Auf der anderen Seite das Fußvolk der zunehmend freischaffenden Orchester- und Begleitmusiker, die sich mit stetig sinkenden Hungerlöhnen abfinden müssen, sich weder Kranken- noch Sozia l versicherung leisten und sich oft nur mit Musical- und Filmmusikjobs über Wasser halten können.

Die gesamte Branche liege darnieder, schreibt Tindall. Viele der eher kleineren Orchester zerbrachen in den letzten Jahren an der Eitelkeit ihrer Vorstände, die prominenten Gästen überzogene Gagen bezahlten und mit überambitionierten Programmen das Stammpublikum vergraulten. Ein Überangebot an Konzerten für eine immer kleinere Zahl von Konzertgängern trocknete den Markt aus. Da landet dann so mancher poten z ielle Virtuose ohne Kranken- und Sozialversicherung im klaustrophobischen Verschlag unter einer Broadwaybühne, in dem die Instrumente die Dezibelzahl einer Kreissäge erreichen und die zu Tode gelangweilten Musiker Kreuzworträtsel und Zeitschriften auf den Notenständern liegen haben.

Krankenschwester sind glücklicher als Orchestermusiker

Kein Wunder also, dass laut einer Studie der Harvard University Orchestermusiker mit ihrem Beruf unzufriedener sind als Flugbegleiter, Psychatriebetreuer, Bierfahrer und Gefängniswärter, denn so manche Festanstellung in einem bekannten Symphonieorchester bringt einen mit einem Jahresgehalt von dreißig- bis vierzigtausend Dollar in einer amerikanischen Großstadt nur knapp über die Armutsgrenze.

Einer der wenigen Momente, in denen Blair Tindall über den Nervenkitzel der Enthüllungen und die Zahlenspiele der Analyse hinauswächst ist dann auch jene Szene, in der sie den todkranken, ehemaligen Begleitpianisten Itzhak Perlmans, Samuel Sanders , im Krankenhaus besucht.

Bei den Konzerten, für die Perlman 33.000 Dollar Gage berechnete, kassierte Sanders selten mehr als eintausend. So liegt er verarmt und vereinsamt im Krankenhausbett. Tindall will ihm die Aufnahme eines seiner Lieblingsstücke vorspielen - Schuberts "An die Musik". Doch Sanders winkt ab und sie schreibt: "Im grellen Schein der Krankenhauslichter entpuppte sich das Leben plötzlich als hässlich und kein Mahler der Welt hätte diese Wahrheit vergolden können."

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