"Moonlight" in der SZ Cinemathek:"Im Mondlicht wirken schwarze Jungen blau"

Kinostart - 'Moonlight'

Moonlight: "Du bist das Zentrum der Welt."

(Foto: dpa)

Der Oscar-Gewinner "Moonlight" erzählt die Geschichte eines schwarzen schwulen Jungen - und wird zum symbolischen Sieg für ein Kino fernab weißer Maßstäbe.

Filmkritik von Philipp Stadelmaier

"Du bist der Mittelpunkt der Welt." Dieser Satz stammt aus der vielleicht schönsten Szene des Films. Da schwebt der neun Jahre alte Chiron im Meer. Zusammen mit seinem erwachsenen Freund, Juan. Juan will Chiron das Schwimmen beibringen. Um ihn mit dem fremden Element vertraut zu machen, hält er ihn auf den Armen und lässt ihn übers Wasser gleiten. Und um ihm Selbstvertrauen zu geben, sagt er ihm: Du bist das Zentrum der Welt. Du und kein anderer.

Die Mitte der Welt: Das hört sich in Bezug auf Chiron beinahe wie Ironie an. Der Junge lebt in Liberty City, einem Vorort von Miami. Ein schwarzes Ghetto und Musterbeispiel amerikanischer Rassensegregation. Drogenbanden, viel Gewalt. Chirons Mutter ist Junkie; Juan ist Dealer. Die Mutter will nichts von ihrem Sohn wissen, also beginnt Juan, sich um ihn zu kümmern. Chiron ist nicht sehr gesprächig. Er ist einsam, ohne Freunde. Bald ist klar, warum: Er fühlt sich zu Männern hingezogen. Und das ist in der chauvinistischen Wirklichkeit von Liberty City ein Problem. Als Juan Chiron kennen lernt, flieht der Junge gerade vor einer Bande von Jungs, die ihn verprügeln wollen.

Eine problembeladene Figur als Mitte der Welt

"Moonlight" von Barry Jenkins, der selbst in Liberty City aufwuchs, macht eine gleich mehrfach problembeladene Figur zur Mitte der Welt: Chiron ist schwarz, schwul und lebt in einem kriminellen Sozialwohnungsviertel. Doch Jenkins fokussiert kein sozial relevantes, aber austauschbares Thema, sondern ein ganzes, einzigartiges Leben. Denn "Little", wie den kleinen Chiron am Anfang alle nennen, wird bald älter. Der Film hat drei Teile, "Little", "Chiron" und "Black", in denen Alex Hibbert, Ashton Sanders und Trevante Rhodes Chiron in verschiedenen Altern spielen.

Auf das schmächtige Kind folgt der schlaksige Jugendliche, der in der gleichen Hood zur Schule geht. Seine Homosexualität ist dort allen bekannt, die anderen Jungs verspotten und verprügeln ihn. Aber Chiron verliebt sich auch, in Kevin. Auf den Jugendlichen folgt der Erwachsene, der sich zu wehren gelernt hat: Chiron ist selbst Dealer geworden, hat sich in Atlanta ein kleines Imperium aufgebaut. Seine Homosexualität ist immer noch tabu. Er hat die Einsamkeit kultiviert. Bis er schließlich seine alte Jugendliebe Kevin wiedertrifft.

Der bizarre Oscar-Moment wirkte wie eine Verschiebung bestehender Machtverhältnisse

Wenn Jenkins Chiron zur "Mitte der Welt" erklärt, ist das auch eine filmpolitische Aussage: Es gibt noch immer zu wenig amerikanische Filme, in deren Mittelpunkt eine schwarze Figur steht - und "Moonlight" tut gerade das Seine dazu, den Ort dieser Mitte neu zu bestimmen. Der Film war in acht Kategorien bei den Oscars nominiert und hatte bereits zwei gewonnen, als "La La Land", Damien Chazelles Hommage ans klassische Hollywood-Musical, als "Best Picture" ausgerufen wurde. Das "La La Land"-Team stand schon auf der Bühne und war mitten in den Dankesreden, als das Unglaubliche geschah, der Fehler verkündet und "Moonlight" zum Sieger erklärt wurde. Der Rest des Abends gehörte den neuen Gewinnern rund um Jenkins.

Diese absolute Novität in der Geschichte der Oscars hat großes symbolisches Gewicht. "La La Land" ist, ohne Frage, ein schöner Film. Eine virtuos inszenierte, perfekt choreografierte Hommage ans klassische, aber eben auch: weiße Hollywood-Kino. Die Hauptfiguren, gespielt von Ryan Gosling und Emma Stone, träumen von Künstlerkarrieren in Hollywood, von denen das weiße Hollywood immer schon hat träumen lassen. Nun waren bei den diesjährigen Oscars zwar so viele schwarze Künstler nominiert wie noch nie, nachdem in den vergangenen Jahren diesbezüglich starke Flaute herrschte. Und dennoch war "La La Land" fast am Ziel, als "Moonlight" dazwischenkam. Wie eine spontane Richtigstellung, eine Korrektur, eine beinahe wundersame Verschiebung auch bestehender Machtverhältnisse.

Ein symbolischer Sieg

"Moonlight" ist der erste durchweg schwarz besetzte Film eines schwarzen Regisseurs, der je diese Trophäe gewann. Aber warum ist das überhaupt so ein Kuriosum? Warum ist es umgekehrt das Normalste von der Welt, nur Weiße in einem von Weißen gemachten Film zu sehen? Ungeachtet der Tatsache, dass ein Oscar nur ein Symbol ist und die Politik sich an anderen Orten als dem Dolby Theatre in Los Angeles ändern muss, war es doch ein großer symbolischer Sieg des schwarzen Kinos.

Universelle Gültigkeit? Nein. Der Regisseur beharrt auf der Besonderheit dieser Erfahrung

Vor diesem Hintergrund erscheint die Szene, in der Juan seinen jungen Freund auf dem Wasser trägt, umso wichtiger. Denn sie macht deutlich, worum es Jenkins hier auch geht: um das Gewicht dieses - schwarzen - Körpers. Jenkins muss sich in seinem Film also des schweren Gewichtes dieses Körpers annehmen - und des Gewichtes dessen, was ihm zugeschrieben und gegen ihn verwendet wird: eine Hautfarbe, eine sexuelle Orientierung.

Der Mensch in diesem Körper ist einsam, von der Mutter ungeliebt, stets bedroht in einer brutalen Umgebung. Einen Körper zu haben, heißt hier: Schläge einstecken. So wird Chiron (als Jugendlicher) Opfer eines "Spiels", dessen Regeln darin bestehen, dass jemand so lange geschlagen wird, bis er nicht mehr aufstehen kann: Der Körper wird auf die schiere Gravitation reduziert und darauf, was er aushalten kann. Also muss Chiron seinen Körper stählen, sich schützen. Im dritten Teil hat er an Muskelmasse gewonnen, die Prothese aus Goldzähnen schimmert im Mund wie ein unüberwindlicher Schutzwall. Oft ruht er nun auf seinem Bett, versunken in sein eigenes Gewicht, seine Einsamkeit.

Wenn nun Juan den kleinen Chiron im Meer hält, um ihm Schwimmen beizubringen, wenn also Juan und das Wasser ihn tragen und er dabei ganz leicht zu werden scheint - dann ist dies genau das, was auch Jenkins tut. Er muss mit seinem Film diesen Körper tragen, beschützen, lieben. Die sich stets bewegende Handkamera umkreist Chiron, umfließt ihn wie Wasser. Um ihn zu halten und zu unterstützen, um ihm etwas von der tragischen Schwere abzunehmen, die mit seiner sozialen und sexuellen Identität einhergeht. Und um ihn anderen Körpern zuzutragen. Am Ende strandet Chiron dann wieder bei seiner ersten großen Liebe Kevin. Wenn sie sich in einem Diner gegenübersetzen, nimmt er schließlich das massive goldene Kunstgebiss aus dem Mund, als würde er Ballast abwerfen.

"Im Mondlicht wirken schwarze Jungen blau"

Das macht "Moonlight" vor allem zu einem tollen Film über das Erlernen und Zulassen von Gefühlen. Jenkins zeigt die intime Erfahrung, den eigenen Körper in seiner Schwere zu erfahren, um diese Schwere irgendwann aufgeben zu können, sich anderen hinzugeben. Aber das macht "Moonlight" noch nicht zu einer "universellen Erfahrung", die ebenso auf weiße Heterosexuelle aus der Mittelschicht übertragbar wäre. Im Gegenteil: Gerade weil sein Film um diese Intimität kreist, insistiert Jenkins auf der Besonderheit gerade dieser Erfahrung eines schwulen Schwarzen, der in Liberty City aufwächst.

Auf diese Weise verfasst Jenkins eine Poetik für ein schwarzes Kino. "Im Mondlicht wirken schwarze Jungen blau", sagt einmal Juan zu Chiron. Man versteht an diesem Punkt den fundamentalen Unterschied zu einem Film wie "La La Land". Dort ist es das Licht der großen Scheinwerfer, das weiße, etablierte Hollywood-Körper erstrahlen lässt, sodass sich jeder mit ihnen identifizieren kann. In Jenkins' Film haben die schwarzen Körper das Licht eher in sich aufgesaugt, um blau zu schimmern, von innen heraus. Nicht in ihrem äußeren Glanz, sondern in ihrer Intimität. Nicht gnadenlos ausgeleuchtet, sondern unterstützt und sanft auf die Leinwand getragen, als würden sie auf dem Meer treiben.

"La La Land" ist gewiss ein Meisterwerk, gemacht mit enormer Virtuosität und Perfektion. "Moonlight" ist kein Meisterwerk nach weißen Maßstäben. Er ist viel mehr als das: ein Film, der die Helligkeitsverhältnisse selbst verändert, in denen jemand als "Meister" erscheint. Und der damit die Mitte der Welt und des Kinos neu bestimmt.

Moonlight, USA 2016 - Regie und Buch: Barry Jenkins. Kamera: James Laxton. Mit Mahershala Ali, Alex Hibbert, Ashton Sanders, Trevante Rhodes. Verleih: DCM, 111 Minuten.

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