"Moonlight":Das sagt ein Psychiater über den Oscar-Gewinner

In "Moonlight" wird ein vernachlässigtes Kind zum Mobbing-Opfer und schließlich zum furchterregenden Drogenboss. Ist dieser Wandel realistisch? Wir haben einen Experten gefragt.

Interview von Paul Katzenberger

Mit "Moonlight" ist bei den Oscars eine berührende Coming-of-Age-Geschichte als "Bester Film" ausgezeichnet worden. Sie erzählt das Leben des Afroamerikaners Chiron in drei Kapiteln mit drei unterschiedlichen Schauspielern.

Als Kind leidet Chiron unter der Vernachlässigung seiner cracksüchtigen Mutter. Beim örtlichen Drogenboss Juan findet er unverhofft Zuneigung. In der Pubertät wird er von seinen Klassenkameraden gemobbt, doch er entdeckt mit seinem Jugendfreund Kevin auch die gemeinsame Homosexualität. Jahre später ist Chiron selbst ein muskelbepackter Drogendealer, der Homosexualität und Gefühle versteckt. Bis sich eines Tages Kevin wieder bei ihm meldet.

Ist dieser Wandel vom hilflosen Opfer über den Machtmenschen hin zur möglicherweise geläuterten Persönlichkeit psychologisch plausibel? Wir haben den Münchner Psychiater und Neurologen Muamer Omerovic gefragt. Der Film kommt am 9. März in die Kinos.

SZ.de: Der Hauptprotagonist von "Moonlight" erlebt im Film eine große Veränderung. Als Kind und Teenager ist Chiron ein gemobbter Loser, als junger Mann hat er sich in einen bedrohlichen Drogendealer verwandelt. Ist eine solche Veränderung der Persönlichkeit realistisch? Es heißt doch immer, was wir sind, würde schon in frühester Jugend angelegt.

Muamer Omerovic: Eine solche Veränderung ist durchaus möglich. Wobei man aber differenzieren muss, ob es sich tatsächlich um eine Veränderung der Persönlichkeit handelt oder um eine Kompensationsreaktion, die uns in diesem Moment das Überleben sichert. Sicherlich besteht die Möglichkeit, dass sich jemand bewusst dagegen entscheidet, so zu sein, wie sie oder er vorher war: schwach, hilflos, ausgeliefert. Doch es gibt immer auch eine Komponente, die sich so nicht verändern lässt und uns ein Leben lang begleitet.

Das, was einem nicht bewusst wird?

Entweder gar nicht bewusst, oder nur bewusst, wenn sich daraus immer wieder Leidensdruck entwickelt. Dies ist häufig der Fall in der traumatisierenden Umgebung. Das Kind erlebt die Ungerechtigkeit und will sich bewusst dagegen wehren.

Und die andere Komponente?

Das Kind und später der Erwachsene reagiert wie früher, weil diese Reaktion ihm früher die Position beziehungsweise das Überleben in der Umgebung gesichert hatte.

Bei Chiron ist es offensichtlich so, dass er sich ganz bewusst dazu entscheidet, über Dominanz Macht auszuüben.

Aber erst in dem Moment, in dem das für ihn möglich wird. Als Kind hat man nur begrenzte Möglichkeiten, auf Umwelteinflüsse zu reagieren. Denn ich darf die Beziehung zu den Eltern nicht gefährden, weil ich von ihnen abhängig bin. Ich kann daher das, was mir angetan wird, entweder nur erdulden, überkompensieren oder bestimmte Situationen vermeiden. Im Falle Chirons ist es so, dass er als Kind und Teenager sehr viel erduldet. Er hat die Rolle des Schwächeren akzeptiert, der vor den anderen wegläuft. Auch im Verhältnis zur drogenabhängigen Mutter lässt er es über sich ergehen, dass sie ihn vernachlässigt, ohne sich verbal zu wehren, oder sie in Frage zu stellen.

Doch dann wehrt er sich umso massiver gegen seinen Klassenkameraden Terrel, der ihn mobbt.

Hier kommt es offensichtlich zu der willentlichen Wende, von der ich sprach. Der Film macht danach einen Sprung. Wir wissen daher nicht genau, wie der bewusste Prozess der Veränderung bei ihm abläuft. Aber wir können davon ausgehen, dass er im Gefängnis gelernt hat, für andere gefährlich zu werden. Wobei ich das im psychiatrischen Sinne durchaus als eine gesunde Entwicklung bezeichnen würde. In seiner Umgebung ist es eine Möglichkeit Sicherheit zu erlangen. Eine ungesunde Entwicklung würde zum Beispiel darin bestehen, wenn er die Gewalt (physische und psychische) 'gerne' ausüben würde, im Sinne einer krankhaften Psychopathie. Bei ihm geht das aber nicht über eine gesunde Grenze hinaus. Denn man muss sich vorstellen, was aus ihm geworden wäre, wenn er sich im Gefängnis nicht angepasst hätte. Das war für ihn die einzig mögliche Reaktion, um in diesem Umfeld zu bestehen. Natürlich steht er nicht jeden Tag mit dem Gedanken auf: 'Ich muss mich verändern.' Sondern er denkt an jedem Morgen: 'Wenn die mich als schwach erleben, dann bin ich erledigt!' Er kann sich einen Stillstand in seiner Entwicklung gar nicht leisten.

Trotzdem behält er sogar noch eine weiche Seite, wie die Begegnung mit seinem Jugendfreund Kevin zeigt.

Genau. Und diese weiche Seite ist die Komponente, die sich bei ihm nicht verändert.

"Es geht immer auch um Versöhnung"

Muamer Omerovic ist Psychiater und Psychotherapeut und behandelt in seiner  Münchener Praxis viele Erwachsene, die in der Kindheit u.a. durch die Kriegserlebnisse traumatisiert wurden.

Muamer Omerovic ist Psychiater und Psychotherapeut und behandelt in seiner Münchener Praxis viele Erwachsene, die in der Kindheit unter anderem durch Kriegserlebnisse traumatisiert wurden.

(Foto: privat)

Inwieweit ist seine frühe Begegnung mit Juan von Bedeutung, der ihm zum väterlichen Freund wird? Es gibt die eine Szene, in der Juan ihm im Meer das Schwimmen beibringt und ihm signalisiert: 'Du kannst dich auf mich verlassen, ich lasse dich nicht untergehen.' Juan vermittelt ihm dadurch ein Urvertrauen, das er durch seine verantwortungslose Mutter vorher nicht entwickeln konnte.

Ich glaube, das ist vor allem von Bedeutung, wenn es um seine Homosexualität geht. In dieser Szene erlebt er erstmals die Akzeptanz. Dass er trotz seines Andersseins angenommen wird. Das heißt, er wird später im Leben wieder nach dieser Akzeptanz suchen, und zwar bei jenen Leuten, die sie ihm geben können. Das ist in seinem Fall der homosexuelle Freund Kevin. Juan hat nach meiner Auffassung aber auch eine dramaturgische Funktion für den Film.

Welche?

Warum wird Chiron Drogenhändler? Weil Juan zwar Drogendealer, aber trotzdem nett, gut und liebenswert ist. Jemand, zu dem man aufschauen kann. Und genau zu so einem Menschen wird Chiron auch - ein Drogenhändler, der trotzdem ein netter und lieber Junge ist. Für mich ist das ein Widerspruch, der mit der Realität eher weniger zu tun hat. Ich glaube, dass die Ghettokarieren zumeist anders verlaufen.

In denen siegt dann doch meistens das Böse. Von Tarell Alvin McCraney, dem Autor der Buchvorlage von "Moonlight", wissen wir, dass es in seinem Leben eine Vaterfigur wie Juan gab. Die wurde eines Tages erschossen aufgefunden.

Und genau diese Botschaft, die jeder erwarten würde, will der Film nicht vermitteln. Stattdessen soll offenbar aufgezeigt werden, dass es nicht nur diesen einen Weg gibt. "Moonlight" könnte Ghettokindern, die vielleicht sogar homosexuell sind, Vorbilder präsentieren, die ihnen Hoffnung geben können. Aber die Hoffnung ist nur einer von vielen Aspekten, die dieser Film thematisiert.

Welche Aspekte haben Sie noch entdeckt?

Es geht immer auch um Versöhnung. Etwa zwischen Chiron und seiner Mutter oder zwischen ihm und Kevin, der ihn geschlagen hat. Alle Figuren werden auch von ihrer guten Seite gezeigt. Juan hat wie gesagt zwei Facetten, aber auch die Mutter, die einerseits drogenabhängig ist, sich andererseits aber um ihn kümmert und Emotionen für ihn zeigt. Selbst Chirons Peiniger Terrell ist ambivalent. Einerseits mobbt er ihn und hetzt andere auf, ihn zusammenzuschlagen. Dann gibt es aber auch die eine Szene, in der er ihn nach Hause gehen lässt, ohne ihn zusammenzuschlagen.

Das heißt, auch im gefährlichsten Ghetto mit hoher Mordrate herrscht Hoffnung und es gibt die Möglichkeit der Versöhnung?

Zumindest ist das ein mögliches Szenario. Der Film drückt aus, dass nicht jeder Drogendealer per se böse und ein Psychopath ist. Sondern es werden Überlebensmodelle gezeigt. Genauso wie jeder von uns schaut, wie er Geld verdient und möglichst gut und sicher lebt, genauso macht das Juan mit anderen Mitteln. Er füllt in dieser Umgebung ja auch viele positive Funktionen aus. Er kümmert sich um sein Umfeld. Allein dadurch, dass ich etwas Illegales mache, werde ich nicht zum Monster.

Nehmen Sie dem Film ab, dass es immer nur um diesen einen Menschen Chiron geht? Denn die drei Figuren Little, Chiron und Black, die für die drei Altersabschnitte stehen, werden von drei verschiedenen Schauspielern dargestellt, die doch recht unterschiedlich wirken, allein weil sie unterschiedlich aussehen?

Ich habe diese drei Charaktere sehr unterschiedlich wahrgenommen, nicht nur physisch. Wir Psychotherapeuten sprechen auch von Gegenübertragung, wenn wir eigene Gefühle wahrnehmen, die durch den Patienten ausgelöst werden, und meine Gegenübertragung auf Little, Chiron und Black war jeweils eine andere. Ich hatte nicht das Gefühl, dass das eine Person ist, die da erwachsen wird. Vielmehr waren das für mich drei unterschiedliche Persönlichkeiten.

"Große Wendungen in unserem Leben erleben wir selten"

"Moonlight"-Regisseur Barry Jenkins (rechts) and Autor Tarell Alvin McCraney mit ihren Oscars für das beste adaptierte Drehbuch. Auch in der Kategorie "Bester Film" setzte sich "Moonlight" durch.

"Moonlight"-Regisseur Barry Jenkins (rechts) and Autor Tarell Alvin McCraney mit ihren Oscars für das beste adaptierte Drehbuch. Auch in der Kategorie "Bester Film" setzte sich "Moonlight" durch.

(Foto: REUTERS)

Das hieße aber, dass das Konzept des Films fragwürdig ist. Es soll ja eine Person gezeigt werden, nicht drei.

Das würde ich nicht sagen. Der Film macht Sprünge im Leben Chirons und zeigt uns nicht, was dazwischen los war. Insofern unterscheidet sich der Film hier von der Wahrnehmung, die wir üblicherweise haben.

Weil es selten passiert, dass wir mit einem alten Schulfreund nach 20 Jahren wieder so intensiv Kontakt aufnehmen, dass wir seine Persönlichkeit von damals mit heute vergleichen könnten?

Genau. Am besten lässt sich das durch unser Selbstbild erklären, das wir in einer Kontinuität erleben. Meistens kommt es nur zu kleinen Korrekturen unserer Selbstwahrnehmung. Große Wendungen, von denen wir sagen, die haben mich großartig verändert, erleben wir hingegen selten. Wenn man die vielen kleinen Revisionen über einen längeren Zeitraum aber zusammenfasst, ergeben sie auch im echten Leben größere Veränderungen. Genau diese präsentiert uns der Film durch die Lücken in der Biografie Chirons. Dadurch hat man die Kontinuität bewusst unterbrochen, was bewirkt, dass Chiron wie drei unterschiedliche Persönlichkeiten wirkt. Aber wenn wir ein alter Schulfreund von ihm wären und über einen längeren Zeitraum hinweg drei Mal in sein Leben treten würde, würden wir es vermutlich so wahrnehmen wie der Zuschauer des Films.

Barry Jenkins, der Regisseur, wollte aber doch auch eine Kontinuität darstellen. Er sagt, es sei ihm nicht wichtig gewesen, dass die drei Schauspieler ähnlich aussehen, doch er habe Wert darauf gelegt, dass sich in ihren Augen dieselbe Ängstlichkeit ablesen lässt.

Was durchaus Sinn ergibt. Wie ich bereits sagte, gibt es einen Aspekt der Persönlichkeit, der sich nicht verändert. Das ist das Hilfsbedürftige, Erduldende, Unnahbare und Schüchterne an der Persönlichkeit Chirons, die sich durch den ganzen Film zieht.

Das heißt, Sie als Psychotherapeut sagen, der Film ist in sich selbst logisch und stellt die mentale Entwicklung Chirons realistisch dar?

Insgesamt schon, wobei die letzte Entwicklung im Film, bei der angedeutet wird, dass er seine Homosexualität annehmen und sich von seinem Drogenhändler-Dasein zu Gunsten einer bürgerlichen Existenz abwenden könnte, den optimalen Verlauf darstellt. Das scheint mir eine Idealisierung zu sein. Aber genau dies sorgt womöglich dafür, dass der Film so gut ankommt.

Dabei gelten Happy Endings heute oft als kitschig.

Das gilt vor allem aber für Filme, die eine eindeutige Botschaft haben. Bei "Moonlight" geht es aus meiner Sicht nicht um eine Kernbotschaft, aus der der Film initial entstanden ist, sondern um Einzelschicksale. Der Film beruht teilweise auf einer realen Biografie, die dem Zuschauer die Möglichkeit bietet, die Botschaft daraus für sich zu entnehmen, die er darin findet. Jeder, der den Film sieht, wird unterschiedliche Wahrnehmungen haben. Auf einen jungen weißen Mann wird der Film anders wirken als auf jemanden aus dem Ghetto. Der wird den Film gar nicht als Ghetto-Film wahrnehmen, sondern sagen: 'Das ist von der Realität weit entfernt.'

Es ist also einfach eine Geschichte, die die Macher des Films aus ihrer Perspektive erzählen, und jeder soll sich dann sein eigenes Bild machen?

Richtig. Das ist ein Film, der sich nicht an eine bestimmte Gruppe richtet. Für jemanden, der sich für Homosexuellen-Rechte einsetzt, ist zu wenig drin. Menschen, die gegen die Ghettoisierung und für Schwarzenrechte kämpfen, werden auch nicht genug finden. Der Regisseur lässt sich von niemandem vereinnahmen. Das ist mutig: Er schildert eine Geschichte, nicht um primär das Publikum zu locken und damit das Geld zu verdienen, sondern um des Erzählens willen. In unseren Zeiten der großen Sprücheklopfer und Weltveränderer ist das ein vergleichsweise leiser Film, der den Zuschauer dazu ermuntert, die Emotionen, die er beim Zusehen empfindet, für sich selbst herauszufinden.

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