Mollino-Ausstellung im Haus der Kunst:Überraschend klarer Blick eines Dandys

Carlo Mollino war Rennfahrer, Sportflieger, Frauenheld - und dabei so exzentrisch, dass sein kreatives Lebenswerk in Vergessenheit geriet. Das ändert sich nun: Mit seiner letzten Ausstellung im Münchner Haus der Kunst zeigt der ehemalige Direktor Chris Dercon Architektur, Design und Fotografien des Turiner Lebemanns.

Laura Weissmüller

Carlo Mollino hat sogar den Stillstand in Bewegung gebracht. Der Rennwagen, den der Italiener 1955 für das 24-Stunden-Rennen von Le Mans zusammen mit Mario Damonte und Guido Nardi entwarf und der jetzt die große Ausstellung über ihn im Haus der Kunst eröffnet, sieht aus als würde er just in diesem Augenblick mit durchgedrücktem Gaspedal seinen Parkplatz verlassen. Dem Betrachter bleibt nichts mehr als das vermeintlich vorbeizischende Heck zu bestaunen: zwei waghalsig miteinander verbundene feuerrote Riesenraketen, die zu ihren eigenen Rücklichtern mutieren. Von 0 auf 100 im Stillstand gewissermaßen.

Mollino-Ausstellung im Haus der Kunst: Die Linie hat einer Choreographie zu folgen. Wenn weibliche Rundungen das nicht beherzigten, half Carlo Mollino möglichst unauffällig nach - auf den erotischen Polaroids, die er heimlich in der Casa Milla von Prostituierten anfertigte, kratzte er Hüfte und Schenkel in Form. Fotografie von Carlo Mollino (1960, ohne Titel)

Die Linie hat einer Choreographie zu folgen. Wenn weibliche Rundungen das nicht beherzigten, half Carlo Mollino möglichst unauffällig nach - auf den erotischen Polaroids, die er heimlich in der Casa Milla von Prostituierten anfertigte, kratzte er Hüfte und Schenkel in Form. Fotografie von Carlo Mollino (1960, ohne Titel)

(Foto: Haus der Kunst München, 2011)

Für Mollino war das ganze Leben eine einzige Bewegung, oder vielleicht besser: ein durchchoreographierter Tanz. Von der Spazierfahrt im Auto, die er auf einem Blatt Papier für zwei Limousinen in Form von Grundriss, Aufriss und Querschnitt entwarf, über den perfekten Stemmschwung eines Skifahrers, dessen Anleitung er als Comic Strip in seinem Skihandbuch vorzeichnete, bis zu dem Eisengeländer des Tanzclubs "Lutrario", das so aussieht als hätte sein Schöpfer Duchamps "Akt, eine Treppe herabsteigend" in die wild gebogenen Geländerstreben geschmolzen. Stillstand war nicht vorgesehen bei Carlo Mollino. Die geschwungene Linie durfte auf keinen Fall unterbrochen werden.

Der Turiner ist der große Unbekannte in der Architektur des 20. Jahrhunderts geblieben. Nicht weil er etwa im Verborgenen existierte. 1905 als Sohn eines erfolgreichen Architekten und Ingenieurs geboren, verbrachte er sein Leben im Rampenlicht seiner Exzentrik. Mit seinem gelben Porsche raste er durch die Stadt, er vollführte über ihren Dächern waghalsige Loopings mit Sportflugzeugen. Und obwohl er zeitlebens im Haus des Vaters wohnte, umgab er sich mit schönen Frauen. Nicht zuletzt probte er sein dandyhaftes Rollenspiel an sich selbst: Seine schlanke Gestalt steckte er gerne in Reitstiefel, der Schnauzer war stets perfekt getrimmt, Fliege und Streifensocken aufeinander abgestimmt.

Von Mollinos Arbeit als Architekt, die er 1931 nach seinem Studium an der Polytechnischen Universität begann und bis zu seinem Tod 1973 betrieb, war bisher nur wenig bekannt. Sein Name stand für Dandytum, Verruchtheit und einen Geschmack bis an der Trashgrenze.

Die große Münchner Schau stellt nun erstmals Mollinos Architektur in den Mittelpunkt. Sie ist die letzte Ausstellung des ehemaligen Haus der Kunst-Chefs Chris Dercon, der im vergangenen Frühjahr als Direktor an die Londoner Tate Modern ging, und ist mit den Co-Kuratoren Wilfried Kuehn und Armin Linke entstanden. Durch ihren Fokus ermöglicht sie nun einen überraschend klaren Blick auf den schöpferischen Nukleus des Tausendsassas, aus dem seine gesamte Kunst, allen voran seine wesenhaften Möbelstücke und seine surrealistischen Fotos, hervorgegangen ist.

Schon in seinem ersten großen Bauwerk, dem Reitclub in Turin, den er 1937 bis 1940 gemeinsam mit dem Architekten Vittorio Baudi di Selve schuf, zeigt sich Mollinos Lust am Collagieren. Präsentierte sich die "Società Ippica" äußerlich streng rational als horizontale Schachtel, durften sich im Inneren die Formen umso kräftiger bewegen. In den seltensten Fällen hielten die Wände hier still. Lieber umkurvten sie den Raum. Das gläserne Geländer im inneren Treppenhaus schwangt sich sogar wie eine Boa constrictor nach oben.

Begehbare Biografie

Um die Überlagerung komplett zu machen, fügte der Architekt in Fotomontagen noch springende Pferde vor das Gebäude, das 1960 wieder abgerissen wurde. Zeitlebens behielt Carlo Mollino dieses System des Zusammenfügens, was nicht zusammengehört, bei, dieses Nebeneinanderstellen von Konträren ohne die Nahtstellen unkenntlich zu machen, um dann das Resultat noch einmal auf seine eigene, geschwungene Linie zu bringen. Das Endprodukt konnte dabei genauso gut auf Papier stattfinden oder zwar gebaut, aber eigentlich unbewohnbar sein. Klingt postmodern? Ist es auch.

Noch kühner erscheint Carlo Mollinos Versuch, ein ganzes Haus zum Readymade zu erklären: Quasi unverändert sockelte er dafür Mitte der Sechziger Jahre einen Heuschober aus Holz auf einen Steinsockel auf. Die alte Scheune, nur einige Kilometer vom ehemaligen Standort auf eine Dorfwiese verpflanzt, hob er so in den Rang eines Kunstwerks.

Ein halbes Jahrhundert später nun hat sich der Künstler Armin Linke für die Münchner Ausstellung auf die Spuren des Architekten und Designers begeben. In seinem fotografischen Essay, das neben den Zeichnungen, Bauplänen und Fotos von Mollino sowie zwei Kunstinstallationen zu sehen ist, erzählt Linke von den wenigen Bauten des Italieners, die die Zeit überdauert haben. Bekanntestes Beispiel ist das Teatro Regio in Turin, eine grandiose Bricolage aus Beton, Plastik und Stein, die vor allem eins darstellt: eine Bühne für die Besucher.

Doch Linke hat auch die abgelegenen Bauten besucht, die Bergstation und Skihütte am Lago Nero auf 2400 Meter Höhe, die Furggen Seilbahnstation auf knapp 3500 Meter in Cervinia. Gerade hier zeigt sich die Missachtung Mollinos Architektur: Im holzvertäfelten Innenraum der Seilbahnstation liegt zentimeterhoch Schnee, die Fenster sind undicht, das Mobiliar verkommen. Kaum einer würde beim Anblick dieser Fotos vermuten, das hier die selbe Person am Werk war wie die, deren Designentwürfe heute auf dem Kunstmarkt Höchstpreise erzielen. Ein Tisch von Carlo Mollino brachte 2005 auf einer New Yorker Auktion 3,8 Millionen Dollar ein. Wer die Möbelstücke im nächsten Raum betrachtet, der versteht gleichwohl ihre Wertschätzung, und auch warum sie nie in Serie gegangen sind: Es sind Kunstwerke. Ein Tisch wird bei Mollino zum sich lang streckenden Reh, zur Gottesanbeterin oder zur Raupe im Kriechgang.

Die Samtsessel, Lampen und Stühle werden in München allesamt auf weißen Sockeln präsentiert und so schön das aussieht, so wenig erzählt es darüber wie Carlo Mollino sie einsetzte. Denn auch ein Raum war für ihn eine Collage, nur dazu da, möglichst dicht bestückt zu werden. Zwar zeigt die Ausstellung im letzten Saal auch Fotos von Mollinos Innenarchitektur, allen voran seiner Casa Miller, einem Apartment, das der Künstler niemals bewohnt hat, dafür aber zu einer begehbaren Biografie ausstattete. Doch etwas boudoirhafter, etwas mehr rotsamten statt bauhausweiß, hätte zumindest dieser Teil der Schau geraten dürfen. Denn so ganz ohne Exzentrik und Dandytum ist Carlo Mollino nicht zu verstehen. Und wahren Künstlern gesteht man das sowieso zu.

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