Modeerscheinung: Glaube:Lob der Gottlosigkeit

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Halleluja! Plötzlich wollen alle wieder glauben. Man erlebt den konservativen Rollback und Bestseller-Triumphe, die sich unmöglich verknarzten Unionswählern allein verdanken können. Das bisschen Beistand von oben ist chic und en vogue - als sei Religion jemals ein angemessenes Mittel gewesen, die Welt besser zu machen.

Sonja Zekri

George Orwell illustrierte die Bedeutung der Religion mit einem Bild aus seiner Kindheit. Als kleiner Junge habe er eine Wespe in der Mitte durchgeschnitten, das Insekt fraß gerade Marmelade von einem Teller und hatte die Verstümmelung offenbar nicht mitbekommen, jedenfalls schlang es einfach weiter, während ein "spärlicher Strom Marmelade aus ihrer abgetrennten Speiseröhre rann". Erst als sie zu fliegen versuchte, bemerkte die Wespe, dass ihr der Unterleib fehlte. Genauso, schreibt Orwell, "ergeht es dem modernen Menschen": Etwas sei weggeschnitten, die Seele, der Glaube, die Spiritualität, und der Mensch habe es nicht mal bemerkt. Konsumieren kann er so zwar noch, aber er wird nie wieder fliegen.

Natürlich gibt es eine jenseitige Welt. Die Frage ist nur: Wie weit ist sie von der Innenstadt entfernt, und wie lange hat sie offen? (Foto: N/A)

Nun hielt der Sozialist Orwell die Amputation für absolut nötig, weil die Religion zum sozialen Sedativ herabgesunken sei - "zehntausend Pfund im Jahr für mich, zwei Pfund in der Woche für dich, aber wir sind alle Kinder Gottes" -, und außerdem stand er unter dem Eindruck des totalen moralischen Zusammenbruchs in Faschismus und Bolschewismus, Gulag, Krieg und Holocaust und war damit in einer Verfassung, in der der Mensch der Idee eines tröstenden Schöpfers gegenüber tendenziell aufgeschlossener ist.

Seitdem ist die Welt deutlich friedlicher geworden, und trotzdem fühlt man sich als Gottloser wie die Wespe vor der Marmelade. Aus den unregelmäßig aufflackernden Wertedebatten summt es einem beispielsweise ausgesprochen insektenhaft entgegen. Bis tief in die bürgerliche Mitte hinein herrscht Konsens darüber, dass die Gesellschaft, erstens, an einer dramatischen moralischen Unterversorgung leidet, und dass, zweitens, Orientierung einzig aus dem Reservoir christlicher Werte geschöpft werden kann. So propagierte es nicht nur Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen in einer Erziehungsoffensive "auf der Basis christlicher Werte" und möchte Kindern "Verlässlichkeit, Hilfsbereitschaft, Respekt und Einzigartigkeit des einzelnen Menschen" von den Kirchen beibringen lassen. So klingt es auch in den Manifesten des konservativen Rollback von Hahne über di Fabio bis Langenscheidt, Bestseller-Triumphe, die sich unmöglich Unionswählern allein verdanken.

Dass die Klage über die moralische Verwahrlosung der Republik, über hedonistische Eigenbrötlerei, Gewalt an Schulen und die Erosion der Familie außer Acht lässt, wie oft Familie, Schule und Job früher brutale Zwangsinstitutionen waren - es sei nur am Rande bemerkt. Es geht um Werte, und wenn man es da ein wenig genauer nimmt, dann ist das Christentum nur eine ethische Quelle neben vielen anderen und nicht mal die wichtigste. Die Verpflichtung zu Toleranz und Gewaltfreiheit, die Achtung der Menschenwürde, der Respekt des Individuums gehören zum geistigen Erbe der Antike, der Aufklärung und des Humanismus, und, ja, sie sind auch eine Konsequenz aus der deutschen Geschichte. Die zwingendste Selbstverpflichtung Deutschlands - die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, das "Nie wieder!" nach Auschwitz - erklärt sich allein historisch. Sie hat mit der Bibel nichts zu tun.

Aber es sind ja nicht nur die Konservativen. Es ist das spirituelle Erwachen bislang ganz unverdächtiger Mitbürger, ein metaphyisches Prickeln, schwer messbar, aber lästig wie Ausschlag, das noch in die nüchternsten Debatten einen irrationalen Ton bringt. Jahrhundertelang hat Europa sich viel darauf zugute gehalten, dass Glauben ein privates Glück ist, nun aber zelebrieren die Massen offensiv eine neue Innerlichkeit, über deren wahre Dimension die Kirchenaustritte nicht im Mindesten Aufschluss geben, schließlich geht es den Menschen nicht um institutionelle Zugehörigkeit, sondern ums Gefühl.

In Bibelkreisen werden die Stühle knapp, Eltern entdecken den Katholizismus, um ihre Kinder in konfessionellen Schulen unterzubringen. Es wird wieder geglaubt in Deutschland, und wo das nicht der Fall ist, wird es als Defizit begriffen (West) oder als historischer Defekt (Ost). Dabei ist die Kirche - sie weiß es selbst - nur ein Sinnstiftungsangebot neben vielen. Seit dem 11. September sind so viele Menschen in Deutschland zum Islam übergetreten wie nie zuvor, die meisten davon Frauen. Buddhismus und Sufismus, Zen und Tao, Neotantra und Reiki mögen auf unterschiedlichem intellektuellen Niveau operieren, aber sie alle entspringen einer geradezu epidemischen Sehnsucht nach Transzendenz.

Die Zahl derjenigen aber, die es entweder mit Woody Allen halten - "Natürlich gibt es eine jenseitige Welt. Die Frage ist nur: Wie weit ist sie von der Innenstadt entfernt, und wie lange hat sie offen?" - oder die ganz ohne Himmelreich auskommen - diese Zahl schrumpft. Giga-Spektakel wie der Weltjugendtag haben mit Transzendenz so viel zu tun wie schwarzrotgoldene Unterwäsche mit Nationalismus, aber ein Plädoyer für Rationalismus sind sie auch nicht. Spätestens seit der Massenverzückung beim letzten Papstwechsel fühlt man sich deshalb als Atheist wie auf einer Eisscholle im Golfstrom. Und es ist nur auf den ersten Blick tröstlich, dass diese epidemische Sinnsuche mit dem Ende der Ideologien zusammenfällt: Technik und Fortschritt, einst als Werkzeuge für die "Entzauberung der Welt" (Max Weber) vom autoritären Mysterienspiel der Kirche begrüßt, sehen im eisigen Wind der Globalisierung plötzlich bedrohlich aus. Der Traum der Linken von der Optimierbarkeit ganzer Gesellschaften ist blutig gescheitert. Dabei geht allerdings unter, dass die neue Innerlichkeit oft nichts anderes darstellt als eine Kapitulation vor den politischen Verhältnissen. Hunderttausende haben sich einer esoterischen Selbstperfektionierung verschrieben, deren reaktionären Kern sie übersehen: Für sie liegt die Ursache für das Elend des Menschen nicht in sozialer Ungerechtigkeit, sondern in den verstopften Chakren. Selbst in Gespräche mit an sich vernünftigen Menschen schleicht sich inzwischen ein wundersamer Ton. Eine befreundete Geschäftsfrau erzählte Monate vor Hape Kerkelings Outing, sie habe eine Kinesiologin besucht und etwas Interessantes erfahren: Sie sei in einem früheren Leben ein mittelalterlicher Ritter gewesen. Ort und Zeit seien allerdings schwer bestimmbar, außerdem sei etwas schief gelaufen, was wiederum viele Schwierigkeiten in ihrem jetzigen Dasein erkläre. Dazu passt eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Magazins Geo, die ergab: Zwei Drittel der Deutschen glauben an Schutzengel.

Infantile Fantasien sind das, rosarote Eskapismen, aber immerhin unterhaltsam. Die spirituellen Weltordnungsversuche werden nämlich nicht vertrauenserweckender, wenn sie den Pendel-Kreis verlassen. In Amerika finden Primatenforscher inzwischen noch nur mit Mühe Geld, und eine junge Wissenschaftlerin, die Affen in Costa Rica beobachtet, berichtet selbst ihren Eltern nur vage über ihre Arbeit, weil diese mit Darwin mehr zu tun hat als mit dem lieben Gott: Die Evolution ist so unanständig geworden wie Sex mit Tieren.

Eine junge Disziplin, "Neuro-Theologie" genannt, betreibt die scheinbare Aussöhnung der alten Erzfeinde Wissenschaft und Religion. Gott, so etwa die These des Molekularbiologen Dean Hamer, sei biologisch nachweisbar, Glaube evolutionär festgelegt auf dem "Gottes-Gen" VMAT2. Andere Forscher vermuten, dass sich zumindest der Sitz der Religiosität lokalisieren lasse und zwar im Scheitellapen: Da wird Atheismus zur biologischen Anomalie.Andere Studien belegen, dass fromme Menschen gesünder und glücklicher leben und besser wirtschaften, womit Gottlosigkeit nicht nur zum Gesundheitsrisiko, sondern auch zum Armutsfaktor wird. Bis zur halbierten Wespe ist es da nicht mehr weit.

Noch gibt es bockige Empiriker wie den Neurologen Richard Dawkins, der die Existenz Gottes mit einer "Teekanne in der Umlaufbahn des Mars" vergleicht: Nicht zu beweisen, aber auch schwer zu widerlegen. Einen der schönsten Zweifler schenkte Daniel Kehlmann unlängst der Literatur, den Mathematiker Carl Friedrich Gaus in "Die Vermessung der Welt". Gaus nämlich hält die Idee eines jüngsten Gerichts schon rein logisch für völlig abwegig: "Angeklagte konnten sich verteidigen, manche Gegenfragen würden Gott nicht angenehm sein. Insekten, Dreck, Schmerz. Das Unzureichende in allem. Selbst bei Raum und Zeit war geschlampt worden. Falls man ihn vor Gericht stellte, gedachte er ein paar Dinge zur Sprache zu bringen."

Vorerst aber steht die Wissenschaft selbst unter Rechtfertigungsdruck. Gerade sie muss sich vorwerfen lassen, dass sie den spirituellen Übereifer erst provoziert hat: durch Klone, gotteslästerliche Reproduktionsverfahren und Hightech-Medizin, die die Grenzen des Menschseins auflöst. Außerdem hat sie zwar viele Rätsel gelöst, aber der Rest sei eben so komplex, dass sich die Frage nach einem metaphysischen Superhirn erst recht stelle.

Religion ist ein Beweis für die Schwäche des Menschen, kein Argument für die Existenz Gottes. Und dass die Renaissance des Glaubens die Welt zu einem schöneren Ort gemacht hat, wird ihm Ernst niemand behaupten. Religion rechtfertigt den islamistischen Terror, den militärischen Messianismus im Weißen Haus und ein paar andere unschöne Entwicklungen, und dass es oft gar nicht um den einen oder anderen Gott geht, sondern um politische Zwecke, ändert nichts daran, dass der Glauben vielen Konflikten gute Argumente liefert. Religionen sind Erfindungen des Menschen. Sie spiegeln wider, wie wir gerne wären, nicht, wie wir sind. Die meisten Religionen enthalten Appelle für ein friedliches Miteinander, die wenigsten wirken dabei friedensstiftend. Wie jedes andere soziale Distinktionsmerkmal, wie Klassen oder Ethnien, ist auch der Glaube nur so integrativ wie jene, die ihn tragen.

Paradoxerweise hat aber nicht mal der militante Islamismus die Neo-Spiritualität erschüttert, im Gegenteil. Wenn man den Islamismus besiegen wolle, ja, überhaupt nur auf Augenhöhe kommunizieren, müsse man erst einmal den eigenen Glauben neu entdecken, heißt es. Flugs nutzten hiesige Falken den Streit um die Mohammed-Karikaturen für eine Attacke auf die MTV-Serie "Popetown" - als wäre das Klima in Kempten inzwischen so gereizt wie in Karatschi. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber möchte das Strafrecht verschärfen, um die Verletzung "religiöser Überzeugungen" schärfer zu ahnden. Der Kampf der Kulturen wogt längst nicht mehr zwischen Islam und Christenheit, sondern zwischen Frommen und Ungläubigen. Die Fundamentalisten beider Seiten verstehen sich nämlich blind.

Selbst wenn die Kirche - nicht der Papst! - sich plötzlich weichgespült und modern gibt, mit Podcasts und durchsichtigen Versuchen, in jedem kollektiven Glücksmoment ein paar Anfällige abzugreifen wie zuletzt in der WM ("Kirche am Ball"), dann wird diese esoterische Bespaßung doch nicht zu einem tieferen Verständnis des Menschen oder zum schmerzfreieren Miteinander führen, sondern bestenfalls zu einem weihrauchbedingten Kater. Bis dahin muss das versprengte Häuflein Gottloser einfach durchhalten.

© SZaW v. 22./23.07.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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