Mode:Die blaue Blume der Semantik

Was ist eigentlich vulgär? Die Londoner Schau "The Vulgar" versucht sich an der Klärung des Begriffs. Und zeigt an Beispielen aus der Mode: Die billlige Nachahmung ist immer nur Schwundstufe.

Von Alexander Menden

Das Vulgäre, hat der Essayist Volker Demut einmal formuliert, gebe sich "der beständigen Degenerierung eines Menschenbilds hin, das sich in irgendeiner Weise noch von Würde berührt weiß". Man könnte auch sagen: Das Vulgäre pfeift auf die Würde, weil sie deren grelles, lautes und oft extrem lustiges Gegenteil ist. Sprache kann ebenso vulgär sein wie Benehmen oder sogar Musik - nichts ist gleichzeitig so instinktiv erkenn- und doch schwer umreißbar. An einer Definition des Vulgären versucht sich derzeit die Ausstellung "The Vulgar" in der Londoner Barbican Art Gallery. Sie konzentriert sich dabei thematisch auf das Vulgäre in der Mode. Und gerade wenn es um Kleider geht, spielt natürlich Klassenbewusstsein eine zentrale Rolle: Kleidung, die einmal als exklusiv galt und dann allgemein erhältlich wird, ist per definitionem "vulgär". Es ist die Absetzung vom Vulgären, die das überlegene Selbstbild des sich für geschmackssicher Haltenden erst ermöglicht.

Zum Wesenskern des Vulgären gehört es ja, dass ihm jede Erkenntnis der eigenen Maß- und Stillosigkeit abgeht. Es negiert Regeln weniger, als dass es sie einfach nicht kennt. Im Barbican richtet sich der Blick daher vor allem auf das Vulgäre als gezielt eingesetztes Stilmittel. In einer Abteilung mit dem Titel "Showing Off" ist ein Manteau-Kleid aus dem Rokoko ausgestellt, dessen Rock so breit ist, dass seine Trägerin nur seitwärts durch eine Tür von normaler Breite gehen konnte. Diesem aristokratischen Statussymbol gegenüber hängt das Kleid "La Mariée", 2005 von John Galliano für Christian Dior entworfen. Es verbindet Elemente des Rokoko mit einer extrem hohen Taille im Empire-Stil, und ist mit Blumenmustern aus blauen Federn verziert. Während sich nun darüber streiten lässt, ob das Kleid aus dem 18. Jahrhundert tatsächlich vulgär oder nur pompös ist, lässt Galliano - ein Designer, der während seiner ganzen Karriere stets mit dem Vulgären kokettiert hat - keinen Zweifel daran, dass er sich des überkandidelten Gepräges seines Entwurfs vollkommen bewusst ist.

Die Designer kennen die Regeln und brechen sie planvoll

Ähnlich wie ein John-Waters-Film spielen solche Kreationen mit ihrer Vulgarität vollkommen bewusst. Die Intentionalität unterscheidet sie beispielsweise vom Burberry-Muster, das ohne eigenes Zutun zum Proleten-Emblem wurde, als es - unautorisiert - sogar auf Unterhosen gedruckt wurde. Gallianos Designs gehörten, ebenso wie etwa Vivienne Westwoods berühmtes "Tits"-Top von 1976, Jeremy Scotts Prêt-à-porter-Kollektion in Form von Gummibärchentüten oder Pam Hoggs fetischistische Leder- und Plastikkreationen, in den Bereich des Meta-Vulgären. All diese Designer kennen die Regeln, und brechen sie planvoll.

Eine kluge Bestimmung des Vulgaritätsbegriffs, die Barbican-Kuratorin Judith Clark gemeinsam mit dem Psychoanalytiker Adam Phillips erarbeitet hat, lautet, das Vulgäre stelle immer eine schlechte Kopie dar. Es erinnere uns an das Original, sei aber nur dessen inakzeptable Schwundstufe. Das Interessanteste am Vulgären ist demnach seine Bemühung, etwas darzustellen, das es niemals sein kann.

Schamlosigkeit in der Mode ist immer eine Befreiung von überholten Statusgrenzen

Betrachtet man beispielsweise die beiden Exponate gleich zu Beginn der Barbican-Schau, sind die materiellen und handwerklichen Übereinstimmungen nicht zu leugnen: links ein Stück einer Kasel aus dem späten 15. Jahrhundert, eines liturgischen Gewandes aus Goldbrokat, eng bestickt mit Pflanzenmustern. Rechts ein Abendkleid samt Stola aus den 1930er-Jahren, entworfen von Elsa Schiaparelli. Es ist ganz aus Goldlitze gefertigt und verweist in Schnitt und Form klar auf Messgewänder wie die spätmittelalterliche Kasel. Doch während die Pracht des alten Stofffragments angemessen erscheint, wirkt das Schiaparelli-Kleid bombastisch und klobig. Eine Wirkung, die nur im Kontext der Entstehung und Nutzung des jeweiligen Kleidungsstücks erklärbar ist: Das eine ist Teil eines feierlich-rituellen Ganzen, das andere ostentativer Selbstzweck.

Natürlich kann ein Kleidungsstück mit einem sich wandelnden Kontext auch seine Intention wechseln. Als die Londoner Designerin Cheryl Hubbard in den Achtzigerjahren ein Paar Stiefel aus Denim mit Pfund-Zeichen aus Silberfolie verzierte, konnte das als subversiver Gestus des sich abzeichnenden Materialismus jenes Jahrzehnts gedeutet werden. In der heutigen Atmosphäre eines noch viel endemischeren, selbstverständlicheren Materialismus ist der erste Impuls, das Tragen von Währungssymbolen als völlig unironisch zu lesen.

Die Regeln, die das Vulgäre mehr oder weniger unbewusst bricht, dienen vor allem der Selbstvergewisserung jener, die sich von der ahnungslosen Masse absetzen wollen. Ein britisches Handbuch über "Etikette, Brautwerbung und Ehe" von 1905 etwa warnt den auf Freiersfüßen wandelnden jungen Mann vor allen Frauen, die "zu viel flirten, unausgeglichen sind, leicht aufbrausen und sich schwer beruhigen lassen, auffällige Kleidung lieben, bewundert werden wollen, frivol, nachlässig im Versehen religiöser Pflichten und respektlos zu ihren Eltern sind". Solch stickige Warnungen verleihen dem Vulgären letztlich sogar etwas vergleichsweise Glamouröses.

Die - nicht zuletzt sexuelle - Enthemmtheit, die in dem Begriff mitschwingt, bedeutet Befreiung von klassenspezifischem Normendruck. Und weil wir diese Schamlosigkeit insgeheim lieben, wird sich die Mode auch weiterhin mit Gusto vulgärer Elemente bedienen.

The Vulgar. Fashion Redefined. Barbican Art Gallery, London. Bis 5. Februar 2017. Katalog 40 Pfund. www.barbican.org.uk.

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