Mini-Serie "Liar" auf Vox:Diese Serie führt uns die eigene Manipulierbarkeit vor Augen

Liar

Am Anfang scheint es, als würde aus Laura und Andrew ein richtig charmantes Pärchen.

(Foto: ITV)

"Liar" zeigt, wie gerne wir über Menschen urteilen, von denen wir rein gar nichts wissen. Besonders wenn es um sexuelle Gewalt geht.

Von Kolja Haaf

Zwei Menschen, Mann und Frau, sind sich sympathisch, lernen sich zaghaft kennen, gehen aus, trinken, lachen und knutschen auch ein bisschen. Dann vergewaltigt er sie. Sagt sie. Er sagt das Gegenteil, versteht die Welt nicht mehr. Aber einer von beiden muss Recht haben.

Die Mini-Serie "Liar" befasst sich in sechs Episoden mit einer Urangst des Menschen - der, als Lügner zu gelten. Wenn einem von einem Moment auf den anderen das Recht abgesprochen wird, die Wahrheit zu sagen. Und zwar gerade dann, wenn man sie am allerdringendsten mitteilen muss. Es geht um die Absolutheit, mit der wir zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden wollen. Denn wenn die eine Aussage gegen die andere steht und es außer einem vagen Eindruck aus der Ferne eigentlich nichts gibt, woran man sich orientieren kann, dann heißt das noch lange nicht, dass Menschen auf ein Urteil verzichten. Gerade dann nicht, wenn es um Vergewaltigung geht. Dann gibt es keine Enthaltung. Dann hat fast jeder eine Meinung.

Diesen Zwang, zu urteilen, kann man in den ersten drei Folgen von "Liar" sehr gut an sich selbst beobachten. Denn die Perspektive wechselt mehrmals zwischen Laura (Joanne Froggatt, Downton Abbey) und Andrew (Ioan Gruffudd) und je nachdem, auf wessen Seite die Handlung gerade ist, ist man sofort bereit, entweder ihr oder ihm zu glauben und den jeweils anderen für völlig unzurechnungsfähig zu halten.

Pro Laura: Sie wacht am Morgen nach dem Date verstört auf und weiß mit Sicherheit, was passiert ist. Sie schafft es, sich aus der Lähmung des gedemütigten Opfers zu reißen. Sie redet über das, was passiert ist, steht tapfer die ärztliche Untersuchung durch, geht zur Polizei. Und erkennt sehr bald, dass die nichts unternehmen kann - eine sehr realistische Einschätzung, denn während in Deutschland im Schnitt nur entmutigende 13 Prozent aller angezeigten Sexualstraftaten zu einer Verurteilung führen, sind es in Großbritannien (Ort der Handlung ist Dover) sogar nur siebeneinhalb Prozent. Laura weiß nicht wohin mit ihrer Wut. Der einzige Ausweg: laut und öffentlich gegen die Hilflosigkeit anschreien. Mit einem Social Media Post will sie sich ein wenig Gerechtigkeit verschaffen. Und wie bei #Metoo brechen sofort die Extreme über sie herein: bedingungslose Solidarität und obszönster Hass, ohne Zwischentöne.

Jeder fühlt sich als messerscharfer Analytiker menschlichen Verhaltens

Pro Andrew: Lauras Anschuldigung nach dem für ihn sehr schönen Abend verwirrt ihn. Als würde er mit einer Faust ins Gesicht geweckt. Wegen ihres Posts, den bald jeder in seinem Umfeld gesehen hat, muss der freundliche Chirurg aus dem Nichts heraus seinem Sohn und seinen Arbeitskollegen versichern, dass er kein perverses Schwein ist. Wildfremde Menschen beschimpfen ihn online als Monster, drohen ihm. Was für einen Grund hätte ein so feiner Kerl, mit einem Lächeln zum Blödwerden, eine Frau zu etwas zu zwingen, das die ihm doch sicher auch freiwillig gegeben hätte? Und wie unverschämt ist bitte diese Selbstjustiz, mit der jemand ohne Beweise das Leben eines anderen einfach mal so nebenbei, mit ein paar Zeilen, für immer zerstört?

Langsam beginnt es einem zu dämmern. Wie gerne man sich hinreißen und seine Gefühle lenken lässt. Wie gerne man mundgerecht servierte Interpretationen übernimmt und für die eigenen hält. Wie sich jeder als messerscharfer Analytiker menschlichen Verhaltens fühlt, sobald sich der Anlass bietet. Und wie untrennbar das Thema sexuelle Gewalt mit einer Emotionalität einhergeht, die jede vermeintliche Objektivität verlässlich verzerrt. Man bekommt eine Ahnung für die eigene Manipulierbarkeit. Und tatsächlich gibt in der ersten Hälfte der Serie dann auch einen Punkt, an dem man bereit ist, sich mit Spekulationen zurückzuhalten.

Bis hier leistet "Liar" das, was der prägnante Titel samt Tagline "Two Sides of One Truth" an Psychologie und Tiefgang verspricht - einen reflektierten Kommentar zu einer Gesellschaft, in der es so einfach ist wie noch nie, sich eine Meinung einzurichten und Menschen freizusprechen oder zu verurteilen, von denen man eigentlich rein gar nichts weiß. Aber damit erschöpft sich auch die Komplexität dieser Serie. Denn in der zweiten Hälfte irritiert, wie schnell die Handlung diese perfide Dialektik von Lüge und Wahrheit wieder verlässt. Es gibt dann eben doch richtig und falsch. Ein eindeutiges Gut und ein noch eindeutigeres Böse. Und es gibt Gerechtigkeit. Das ist sehr befriedigend. Aber es ist auch zumindest erzählerisch eine vertane Chance, unser Bedürfnis nach Verurteilung einfach mal ins Leere laufen zu lassen.

Damit ist die amerikanisch-britische Koproduktion (SundanceTV/ITV) weniger Zeitgeist-Thriller, dafür aber ein guter Krimi. Look und Dramaturgie der Serie können zwar nicht ganz mit Netflix und Co. mithalten - es gibt soap-artige Nebenhandlungen, die Dialoge wirken oft bemüht und auch eine Vor-innerer-Zerrissenheit-den-Spiegel-zertrümmern-Szene konnte man sich nicht verkneifen. Was die Serie aber trotzdem sehr sehenswert macht, ist neben gut dosierter Spannung die Eindringlichkeit, mit der Ioan Gruffudd und Emmy-Gewinnerin Froggatt einen dazu bringen, im einen Moment dem eigenen Bauchgefühl zu misstrauen, Abstand zu nehmen und sich im nächsten wieder der Wut des Gerechten hinzugeben. Nur könnte man eben meinen, dass es für letzteres schon oft genug Gelegenheit gibt.

Liar, Start der ersten Staffel am 14. März auf Vox, 21.15 Uhr

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