Mikael Nyqvist über die Colonia Dignidad:"Für einen Pädophilen war das ein Traum"

Lesezeit: 4 min

Immer ein Alphatier, das alles unter Kontrolle behalten musste: Mikael Nyqvist als Paul Schäfer (links) mit Emma Watson in "Colonia Dignidad - Es gibt kein Zurück". (Foto: Majestic Filmverleih)

Im neuen Thriller "Colonia Dignidad" verkörpert er das ultimativ Böse: Mikael Nyqvist spielt Sektenführer Paul Schäfer. Er sagt: "Man kann der Schizophrenie kaum näher kommen."

Interview von Paul Katzenberger

Der deutsche Jugendpfleger Paul Schäfer gründete 1961 in der chilenischen Provinz die festungsartig ausgebaute Colonia Dignidad, in der er als Anführer einer urchristlichen Sekte jahrzehntelang ein brutales Regiment führte. In der Kolonie lebten auch entführte Kinder, die Schäfer sexuell missbrauchte. Der Thriller "Colonia Dignidad - Es gibt kein Zurück", der nun in die Kinos kommt, erzählt eine fiktive Geschichte, hat aber die historische Wahrheit des Camps zur Grundlage. Dargestellt wird Paul Schäfer von dem schwedischen Schauspieler Mikael Nyqvist.

SZ.de: Wie hat es sich für Sie angefühlt, einen solch widerwärtigen Bösewicht wie Paul Schäfer zu spielen?

Mikael Nyqvist: Ich betrachte die Figuren, die ich spiele, nicht unter dem Aspekt "anständig" oder "bösartig". Ich suche vielmehr nach Momenten in ihren Handlungen und in ihren Persönlichkeiten, die meine Neugierde wecken. Aber ich muss zugeben: Bösewichter zu spielen, macht mehr Spaß.

Weil Sie Ihre dunkle Seite ausleben dürfen?

Wahrscheinlich. Aber es gibt einen Mechanismus, der erstaunlich gut funktioniert: Wenn sich ein Schuft von seiner netten Seite zeigt, sind die Zuschauer sofort von ihm hingerissen. Du bist ständig ein Fiesling und auf einmal gibst du dich liebenswürdig. Und die Leute denken sofort, ach, der hatte vorher nur einen schlechten Tag. So merken sie nicht, dass das Böse sie nur manipuliert.

Worin liegt der Spaß, Menschen zu korrumpieren?

Ich finde, es ist spannend, eine Figur in sich selbst zu entdecken und zu erproben, und sei sie noch so niederträchtig. Man denkt: 'Mein Gott, was macht er denn jetzt? Er ist total verrückt!' Man kann der Schizophrenie kaum näher kommen.

Sie haben Paul Schäfer mit einem Tier verglichen. Ihn darzustellen, muss wie eine Persönlichkeitsspaltung für Sie gewesen sein.

Das war es durchaus. Denn für mich als Schauspieler war es sehr schwer, ihn als Figur zu verteidigen. Die beste Möglichkeit, mir seine Denk- und Funktionsweise anzueignen, bestand tatsächlich darin, ihn mir als Tier vorzustellen. Wenn sich jemand in einem Raum bewegte, dann sah er das sofort. Er verstand sich immer als Alphatier, das alles unter Kontrolle behalten musste. Wie der Leitwolf in einem Rudel.

Sie haben auch eine Parallele gezogen zwischen Paul Schäfer und Hannibal Lecter, Charles Manson sowie James Brown. Lecter und Manson kann man nachvollziehen, aber warum nennen Sie auch Brown? Der war zwar ein Kleinkrimineller mit Gewaltausbrüchen, aber doch primär ein weltbekannter Künstler und keine Bestie.

Schäfer war ein leidenschaftlicher Prediger. Als Verkünder feierte er große Auftritte in seiner Sekte. In der Weise war er für mich ein James Brown, der viele Menschen mit seinen Live-Acts für sich einnehmen konnte. Auf den Straftäter James Brown hat sich mein Vergleich nicht bezogen.

Wie hat es Schäfer Ihrer Meinung nach geschafft, so viele Menschen über einen so langen Zeitraum hinweg unter Kuratel zu stellen? War das allein sein Charisma als Prediger?

Sicher nicht. Er hatte dieses Lager ganz auf den Missbrauch zugeschnitten, den er im Schilde führte. Die abgeschiedene Lage der Colonia Dignidad war ideal für sein Vorhaben, seinen sexuellen Drang voll auszuleben. Für einen Pädophilen war das ein Traum.

Aber er war ja auch in der Lage, bis zu 300 Bewohnern groteske Vorgaben zu machen, dass zum Beispiel Männer und Frauen nicht miteinander sprechen durften. Das schafft man doch nur, wenn das Menschen mit sich machen lassen. Wie gelang ihm das?

Ich glaube, durch Terror. Seine Praxis öffentlicher Bestrafung war pure Folter: 'Du bist ein Sünder, also musst du vor aller Augen verprügelt werden.' Das ist eine ungeheure Erniedrigung. Außerdem verabreichte er den Camp-Insassen Psychopharmaka. Die Menschen hatten furchtbare Angst vor ihm. Er machte jedem klar: 'Wenn du nicht das tust, was ich will, dann wird das für dich sehr ernsthafte Konsequenzen haben. Wir alle sind in der Hand Gottes, aber ich weiß, was Gott will, und du weißt es nicht.' Er war der Einzige im Lager, der eine Bibel besaß.

War es wirklich reine Unterdrückung? Oder nicht doch auch freiwillige Unterwerfung?

Natürlich spielt beides eine Rolle. Der Zweite Weltkrieg hat Millionen von Deutschen hoffnungs- und bindungslos in einem total zerstörten Land zurückgelassen. Wenn jemand allein dasteht, und da kommt einer daher und macht ihm Hoffnung auf eine neue Heimat mit allen möglichen Versprechungen, dann finden sich garantiert Menschen, die ihr Leben in die Hand eines solchen Mannes geben.

Man kann das sogar verstehen.

Ja, weil es sich leichter anfühlt, nicht mehr für sich selbst entscheiden zu müssen. In letzter Konsequenz gibt man dadurch aber sein Leben aus der Hand - das einzige Leben, das man hat. Das ist das Infame an allen Sekten.

Verwirklichte sein Vorhaben, den pädophilen Drang voll auszuleben: Paul Schäfer, dargestellt durch Mikael Nyqvist in "Colonia Dignidad - Es gibt kein Zurück". (Foto: Majestic Filmverleih)

" Colonia Dignidad - Es gibt kein Zurück" feierte im vergangenen September beim Filmfestival in Toronto seine Premiere. Viele Kritiker waren damals der Meinung, es sei unangemessen, dieses sehr ernste Kapitel der Geschichte Chiles zu einem Thriller zu verarbeiten. Was entgegnen Sie diesen Kritikern?

Solange ein Thriller die historische Wahrheit nicht verzerrt, halte ich dieses Genre für absolut geeignet, einen Tatbestand der Geschichte zu erklären. Ein Dokumentarfilm kann den Schrecken des Camps bis zu einem Punkt beschreiben, an dem der Zuschauer es kaum noch aushält. Doch ich glaube nicht, dass das die Wahrheit unbedingt besser erfasst als ein Spielfilm, dessen Akteure versuchen, sich in die damalige Situation der Figuren hineinzuversetzen.

Dieses Argument müssten besonders die Deutschen gut nachvollziehen können. Der Vierteiler "Holocaust", der Ende der Siebzigerjahre hierzulande im Fernsehen lief, machte den Menschen den Nazi-Terror weit stärker bewusst als die Dokumentarfilme, die zuvor die Leichenberge in den KZs zeigten. Soll Ihr Film in dem Sinne wirken?

Ich hoffe es. Wir zeigen ein System, das gefährlich ist. Und ich würde mir wünschen, dass bei Menschen die Alarmglocken losgehen, wenn sie in die Nähe von so etwas kommen sollten. Wenn unser Film einen Beitrag dazu leisten kann, wäre schon etwas erreicht.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusRegisseur Florian Gallenberger
:Die wahren Schuldigen

Florian Gallenberger hat aus dem bitterernsten Stoff der "Colonia Dignidad" einen Genrefilm mit Liebe, Tempo und internationalen Ambitionen gemacht. Im deutschen Kino ist das fast ein Sakrileg.

Interview von Susanne Hermanski

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: