Migration:Wieso sich Osteuropa gegen Flüchtlinge sperrt

Erstaufnahmeeinrichtung in Kiskunhalas

Flüchtlinge demonstrieren im Internierungslager Kiskunhalas gegen die verschärfte Asylpolitik Ungarns. (SZ-Archivbild von 2016).

(Foto: dpa)

Sie setzen auf Sieg statt auf Verhandlung, auf Gemeinschaft statt Vielfalt. Ivan Krastev analysiert die "bedrohten Mehrheiten" Osteuropas - und das nur verhalten optimistisch.

Von Gustav Seibt

Die Flüchtlingskrise von 2015 sei Europas 11. September gewesen, der Moment, von dem an alles anders wurde, und zwar für immer. Das ist die These von Ivan Krastev, einem brillanten, scharfzüngigen Politikwissenschaftler mit Sitz in der bulgarischen Hauptstadt Sofia, doch gut vernetzt in ganz Europa und den USA. Krastev ist ein viel gefragter Mann, er bringt seit einigen Jahren die osteuropäische Perspektive in die Debatten zur Zukunft der Europäischen Union ein. Nun riskiert er in einem schlanken, dichten Bändchen die Totale, einen umfassenden Blick auf die Lage Europas.

Die Flüchtlingskrise hat alles verändert, weil sie uns erhalten bleiben wird, das ist die erste Feststellung. Die Ungleichgewichte in der Welt sind heute so fühlbar wie nie zuvor, denn wenige Wischbewegungen und Klicks genügen, um sie jederzeit zur Anschauung zu bringen. Kriege, demografische Krisen haben ein verlockendes Gegenbild in den Wohlstandszonen der Erde. Dort wird, so Krastev, der Liberalismus fortan mit einem zentralen Widerspruch konfrontiert: "Wie lassen sich unsere universellen Rechte mit der Tatsache vereinbaren, dass wir sie als Bürger ungleich freier und wohlhabender Gesellschaften genießen?"

Das wichtige Wort ist "ungleich", denn es benennt die Anziehungskraft in einem Flüchtlingsrecht, das nach dem Zweiten Weltkrieg für politische verfolgte Minderheiten entworfen worden war. Ungleich ist nicht nur der Wohlstand, ungleich sind Rechtssicherheit, staatliche Ordnung, und damit die Voraussetzungen für Menschenrechte, und zwar für Millionen. Globalisierung verwandelt die Welt in ein Dorf, "aber dieses Dorf lebt unter einem Diktat - dem Diktat des globalen Vergleichs." Krastev erinnert an Raymond Aron: Die Ungleichheit zwischen den Völkern nehme die Bedeutung an, "die einst die Ungleichheit zwischen den Klassen besaß".

Zweitens hat die Flüchtlingskrise mehrere Spaltungen in Europa und seinen Gesellschaften verschärft oder ans Licht gebracht, die uns ebenfalls erhalten bleiben werden. Mit agiler Freude an Antithesen buchstabiert Krastev sie aus. Die sichtbarste Spaltung ist die zwischen alter und neuer EU, also zwischen Ost und West. Warum reagieren die osteuropäischen Länder so allergisch auf das Verlangen nach Solidarität in der Flüchtlingsfrage?

Das Gedächtnis dieser Länder ist voller Nationalitätenkonflikte

Es sei nicht einfach Egoismus, so Krastev. Dahinter stehen fundamental abweichende historische Erfahrungen, die der Westen wahrnehmen sollte. Krastev beginnt in der Gegenwart und beschreibt die enormen Migrationsverluste von Ländern wie Polen, Rumänien und Bulgarien nach dem Ende des Ostblocks - große Teile der starken, oft gut ausgebildeten Jugend gingen in die westlichen Länder der EU. 2,1 Millionen Bulgaren lebten 2011 im Ausland, im Inland verblieben sieben Millionen. Das ist dramatisch. Die gealterten, zurückbleibenden Gesellschaften fühlen sich bedroht.

Außerdem haben die ehemals kommunistischen Staaten den Kosmopolitismus schon einmal erlebt, als staatlich verordnete Ideologie. Der humanitäre Charme hat sich verbraucht. Noch länger zurückgeblickt: Die Länder Osteuropas entstammen multikulturellen Vorläufergesellschaften in Großreichen, die mit Gewalt und Grausamkeit zerteilt und zu homogenen Nationalstaaten geformt wurden, zum ersten Mal in ihrer Geschichte. Das Gedächtnis dieser Länder ist voller Nationalitätenkonflikte. Dazu komme als anschauliches Dauerproblem die gescheiterte Integration der Roma, was an den Chancen einer Integration von Fremden und Zuwanderern generell zweifeln lasse.

Alle diese Erfahrungen verdichten sich zu einem umfassenden Zweifel am liberalen Menschenrechtsdiskurs mit seinen Postulaten der Offenheit, der Vielfalt, des Minderheitenschutzes, des Individualismus. "Bedrohte Mehrheiten", gezeichnet vom Zusammenbruch der Vorgängerordnung, geschwächt durch Abwanderungen, skeptisch gegen humanitäre Rhetorik, wehren sich gegen die Aufnahme neuer Minderheiten. Mit einem vergleichenden Blick auf Brexit und Trump erkennt Krastev in der Ost-West-Spaltung auch das Stadt-Land-Muster, das in England und den USA diagnostiziert wurde: Die Städte waren mehrheitlich gegen Trump und den Brexit, das platte Land eher dafür.

Offenheit ist hier kein Versprechen, sondern eine Drohung

Und weil Krastev das Antithesenbilden nicht anhalten kann, ersteigt er kurz die nächste Verallgemeinerungsstufe und spricht noch über den Gegensatz von Land und Meer. Man darf an Carl Schmitt denken. In Amerika sind es vor allem die Küstenstädte, die gegen Trump waren, und Ähnliches mag man über London und den Brexit sagen. Nun sollte man solche intellektuell reizvollen Schemata nicht überziehen: Das Küstenland Italien nähert sich unter dem Eindruck seiner eigenen Flüchtlingskrise vielleicht schon bald den osteuropäischen Stimmungslagen an.

Bedeutsamer sind die Linien, die Krastev von dieser historisch-faktischen Lagebeschreibung zum Demokratieverständnis der beteiligten Gesellschaften zieht. Warum sind autoritäre Varianten der Demokratie in Osteuropa so attraktiv? Hier entfaltet der Begriff der "bedrohten Mehrheit" seine Kraft. Demokratie hat überall die Möglichkeit, illiberal zu werden. Aber Mehrheiten, die sich bedroht fühlen, werden, so Krastev, weniger kompromissbereit, sie setzen auf "Sieg" statt auf "Verhandlung", sie suchen Gemeinschaft statt Vielfalt, sie halten am Vertrauten fest und misstrauen dem Zwang zur Veränderung. Offenheit ist hier kein Versprechen, sondern Drohung, Grenzen werden als physische Notwendigkeit erlebt, als Schutz, nicht als Beengung.

Dazu kommen mit Blick auf die EU zwei verschärfende Effekte. Der erste ist paradox: Die Bürger Osteuropas vertrauten eigentlich der EU mehr als ihren eigenen Politikern, die EU werde als Sicherheitsnetz wahrgenommen. Aber deshalb begünstige sie auch eine gewisse Bedenkenlosigkeit bei populistischen Experimenten. Man lehnt also vor Ort den EU-Liberalismus ab, um sich im Hintergrund doch auf ihn zu verlassen.

Wenn die EU abgelehnt wird, dann, so Krastev, weniger wegen ihres Demokratiedefizits, sondern als Ordnung der Meritokratie, in der Leistung mehr zählt als Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Die EU ist etwas für die Starken, Gebildeten, Jungen, Mobilen. Die EU schaffe, so eine verbreitete Wahrnehmung, "eine Gesellschaft aus egoistischen, arroganten Gewinnern und zornigen, verzweifelten Verlierern". Eine solche Gesellschaft ist nicht einfach ungleich, sie rechtfertigt Ungleichheit durch Unterschiede in der Leistungsfähigkeit. Populismus und Nationalismus sind attraktiv, weil sie Gemeinschaft, ja "Intimität" ohne Voraussetzungen versprechen. Scharf formuliert: Aus einer Volksgemeinschaft kann man auch bei biografischem Scheitern nicht herausfallen, sofern man einmal drin ist. Dass das Nationale oft das Soziale ersetzt, wurde schon in Ostdeutschland nach der Wende gelegentlich beobachtet. Das ist längst auch ein Thema der westlichen Linken, man denke an Didier Eribon.

Die Verweigerung republikanischer Politik stärkt den Illiberalismus

Alle diese Strukturbrüche hat die Flüchtlingskrise nicht hervorgebracht, aber verschärft und sichtbarer gemacht als zuvor. Krastevs Abspann ist kurz: Er buchstabiert die Untauglichkeit der im Moment so beliebten Referenden durch und spottet zugleich über ein jugendliches Protestengagement, das Partizipation (etwa in sozialen Medien) mit Repräsentation verwechselt. Beides sind Verweigerungen republikanischer Politik, die den Illiberalismus verstärken.

All das klingt sehr pessimistisch, aber Krastevs Ausblicke sind doch gedämpft zuversichtlich. Brexit und Trump haben den populistischen Versuchungen viel von ihrer Attraktivität genommen. Die Krisen verstärken nicht nur Tendenzen der Spaltung, sondern auch Wahrnehmungen gegenseitiger Abhängigkeit. Mit fast kakanischer Ironie sagt Krastev, der Historiker solle nicht fragen, warum Österreich-Ungarn 1918 zusammenbrach, sondern warum das nicht schon 1848 geschah. Die Überlebensfähigkeit der EU in den nächsten Jahren könne selbst zur Legitimationsquelle werden, indem sie apokalyptische Parallelen zur späten Sowjetunion widerlegt.

Leider sagt Krastev nichts zum Liberalismusbedarf in den osteuropäischen Gesellschaften: Auch sie haben Minderheiten, und nicht nur Roma. Auch sie haben Frauen, die ihre Rechte zu schätzen wissen, und Arbeitnehmer, denen die von der EU durchgesetzten Sozialstandards helfen. Diese besteht ja nicht nur aus Meritokratie ortloser Globalisierungsgewinner - sie schützt auch die Natur am Ort, was viel zu oft unerwähnt bleibt. Die "Versöhnung", die Krastev anmahnt, meint vor allem die Wahrnehmung des Ostens durch den Westen; dazu hat er einen wichtigen Beitrag geleistet. Dazu müsste auf der anderen Seite ein geschärftes Bewusstsein für die Vorzüge und die Unentbehrlichkeit der EU kommen.

Die Analogie zur K.-u.-k.-Monarchie ist noch nicht ausgereizt. Sie wurde vor 1914 so in Grund und Boden geschrieben wie heute oft die EU. Aber nichts wurde besser nach ihrem Ende.

Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 144 Seiten, 14 Euro

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