Michael Moore und "Sicko":Kassandra der Kranken

Nach Abrechnungen mit Waffenwahn und Bush-Regierung nimmt sich Michael Moore in seinem neuen Film "Sicko" das amerikanische Gesundheitswesen vor. Diagnose: Lebensgefährlich.

Andrian Kreye

Spätestens im letzten Viertel von "Sicko" hat einen Michael Moore gepackt. Da hat man schon ausführlich erfahren, wie die amerikanische Medizin- und Pharmaindustrie in den Jahrzehnten seit der Nixonregierung gemeinsam mit den Mächtigen in Washington das Gesundheitswesen zu einer menschenverachtenden Profitmaschine reduzierte. Man hat reuige Mitarbeiter großer Krankenversicherungen angehört, die erzählen, wie sie die Versicherten im Dienste der Profitmaximierung um Gesundheit, Geld und Leben brachten.

Michael Moore

Auch in "Sicko" bleibt Regisseur Michael Moore seiner bewährten Methode treu: Manipulation der großen Gefühle.

(Foto: Foto: Reuters)

Man hat Moore nach England und Frankreich begleitet, wo im Gesundheitswesen offensichtlich paradiesische Zustände für alle herrschen. Und dann stellt er einem die freiwilligen Katastrophenhelfer vor, die sich nach den Anschlägen auf das World Trade Center schwere Lungen- und Atemwegsleiden zugezogen haben, für die nun keiner bezahlen will. Die Regierung nicht, die Versicherungen nicht, und weil sie an ihren Krankheiten pleite gingen, können sie sich weder Behandlungen noch Medikamente leisten. So bleibt ihnen nichts anderes übrig als zu leiden.

Es gibt dann noch einen jener szenischen Kalauer, für die Moore berühmt ist. Er fährt die Kranken mit Booten vor das Gefangenenlager von Guantanamo Bay und fordert per Megaphon, den Helden von Ground Zero doch die gleiche Gratispflege zu gewähren wie den Terrorverdächtigen. Dann aber führt er seine Schützlinge in eine kubanische Apotheke. Da kosten die Medikamente einen Bruchteil dessen, was man in den USA dafür bezahlen muss. Da gibt es die ersten Tränen.

In einem kubanischen Krankenhaus kümmern sich die Ärzte fürsorglich um die Kranken. Und siehe da - es braucht nur wenig Aufwand, um ihre Leiden zu lindern. Als sie dann eine kubanische Feuerwache besuchen und von den karibischen Feuerwehrlern endlich als Helden des Zivilschutzes gefeiert werden, fließen nicht nur auf der Leinwand Tränen der Rührung und des Zorns.

Man kann nun darüber streiten, ob es Sinn eines Dokumentarfilmes sein darf, das Publikum so plump zu Tränen zu rühren. Aber dann ist man schon in die Falle der Michael-Moore-Debatte getappt. Denn das einzig wirkliche Problem mit Michael Moore ist, dass es Leute gibt, die ihn ernst nehmen. Das sind nicht wenige. Dabei ist Moore vor allem ein brillanter Satiriker und ein furioser Propagandist.

Recherche, Sarkasmus, Kalauerei

Es sind zumeist rechte Amerikaner und linke Europäer, die ihm auf den Leim gehen. In seiner Heimat ergießt sich unbarmherzig rechter Spott über ihn, denn noch viel größer als sein mächtiger Leib ist sein Ego. Wenn er dann seine Arbeiten verteidigt, egal ob seine Filme, Bücher oder Fernsehprojekte, kann er einem mit seiner Besserwisserei so richtig auf die Nerven gehen.

Wer all seine Vorurteile über Michael Moore bestätigt sehen will, der sollte auf der Videoclipseite die Suchbegriffe Michael, Moore und CNN eingeben. Da kann man dann sehen, wie Moore dem nicht minder selbstverliebten Starmoderator Wolf Blitzer mit einem missionarischen Eifer über den Mund fährt, wie man es seit Tom Cruises letztjährigen Talkshowauftritten nicht mehr gesehen hat.

Und weil seine Botschaft meist platt daherkommt, ist ihm der Applaus von links garantiert. Gerade in Deutschland beruhten seine enormen Erfolge darauf, dass er die gängigen Vorurteile von Amerika als Hort von Geldgier und Gewalt mit vermeintlichen Fakten unterfütterte. Die Schlampereien bei der Recherche zu seinem ersten Kinohit "Bowling for Columbine" hat er zwar beim Nachfolger "Fahrenheit 9/11" vermieden, indem er die legendär strenge Dokumentationsabteilung der Zeitschrift New Yorker anheuerte. Doch er bleibt auch in "Sicko" bei seiner Methode, die Dogmatik der politischen Dokumentation mit Sarkasmus und Kalauerei für ein breites Publikum aufzubereiten.

Das mag journalistisch ebenso unlauter sein wie seine Angewohnheit, Fakten zugunsten der Rhetorik zu beugen. Was er damit aber geschafft hat - er hat den Dokumentarfilm aus den Nischen der Kunstfilmkinos und des Spätprogramms im Fernsehen befreit.

Verdient haben das die Dokus schon länger. Auch wenn Ken Burns Amerika den Amerikanern immer noch im Seminarstil erklärt und Robert Greenwald die Graswurzelbewegungen mit Fakten erstickt - in den USA müssen Dokumentarfilme seit Jahren mehr leisten als bloße Aufklärung. Sie müssen epische Erzählbögen aufbauen. Oder zumindest mit brachialem Humor unterhalten, auch wenn sich Michael Moore damit in die Nähe der "Jackass"-Filme begibt.

Massen aus der Lethargie reißen

Doch es gehört ja auch Mut dazu, sich als vollfetter Quatschkopf zum Furzwitz der politischen Debatte zu degradieren. Nur so kann er genau jene Menschen auf seine Seite ziehen, die normalerweise zu einem komplexen Thema wie der Aushöhlung des Gesundheitswesens durch Deregulierung und Renditedruck nicht einmal einen Fernsehbeitrag ansehen würden.So gerät auch "Sicko" zum Kinovergnügen mit pädagogischem Mehrwert.

Letztlich bedient sich Moore ja der gleichen Mittel, mit denen sich auch Hollywoodgrößen wie Steven Spielberg, Ron Howard oder Nora Ephron den Weg in die Kinocharts ebnen. Er manipuliert große Gefühle im bewährten Takt des Dreiakters. Nun sind es eher die niederen Instinkte des politischen Bewusstseins, die er so aktiviert - die Wut, die Häme, die Betroffenheit und die Besserwisserei. So aber reißt er unpolitische Massen aus der Lethargie.

Nun gibt es bei uns keine amerikanischen Verhältnisse. Doch Moore hat sich mit "Sicko" eines globalen Problems angenommen. Es geht ihm ja nicht um die Millionen Unversicherten in Amerika, sondern um die Bürger mit Krankenversicherung. Und weil die Konzerne auch in den erodierenden sozialen Marktwirtschaften Europas nach Lücken forschen, wird Michael Moore mit "Sicko" erstmals nicht nur Vorurteile bestätigen, sondern als Kassandra auftreten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: