Mexikanische Literatur:Wenig zu beißen

Valeria Luiselli, 2015

Valeria Luiselli, geboren 1983, lebt als Lektorin, Journalistin und Dozentin in Mexico City und New York. Ihr Romandebüt "Die Schwerelosen" wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

(Foto: fourandsixty)

In ihrem Roman "Die Geschichte meiner Zähne" recycelt Valeria Luiselli die Literatur aus der Arbeitswelt. Ihr Buch ist ein unterhaltsames Fake.

Von Meike Fessmann

Was macht die Relevanz einer Geschichte aus, was den Wert eines Kunstwerks? Im Vergleich zur bildenden Kunst hat die Literatur einen großen Vorteil: Als Kapitalanlage taugt sie nicht. Wofür aber dann? Die 1983 in Mexiko City geborene und in New York lebende Schriftstellerin Valeria Luiselli begibt sich mit ihrem neuen Buch auf eine Gratwanderung. Sie balanciert zwischen den Künsten und versucht, den unterschiedlichsten Anforderungen gerecht zu werden. Hoch bewusst und ästhetisch raffiniert ist ihr Buch ein Spiel mit der literarischen Tradition und zugleich eine Auftragsarbeit.

Die in einem Vorort von Mexiko City gelegene Jumex-Galerie, deren Vermögen aus der Vermarktung von Fruchtsäften stammt, bat die Schriftstellerin vor drei Jahren um einen Beitrag für einen Ausstellungskatalog. Es sollte um "Brücken" gehen, wie sie im Epilog ihres Buches schreibt, um Brücken zwischen Vorort und City, zwischen Fabrik und Galerie, der Welt der Arbeit und der Welt der Kunst. Man könnte auch sagen, zwischen einem Leben, das keine großen Sprünge erlaubt, und frei flottierendem Kapital.

Alles ist Fake in diesem Buch, nur sich selbst scheint es dabei erstaunlich ernst zu nehmen

Valeria Luiselli wollte diejenigen beteiligen, die den Profit erwirtschaftet haben, aus dem die Sammlung entstanden ist. Also regte sie die Arbeiter an, aus ihrem Leben zu erzählen. Das mutet auf den ersten Blick wie eine lateinamerikanische Variante der Literatur der Arbeitswelt an, wie sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren in der Bundesrepublik praktiziert wurde.

Aber wir befinden uns im 21. Jahrhundert. Die Schriftstellerin musste nicht in den Betrieb, um sich dort anzuhören, was die Arbeiter auf dem Herzen haben. Sie ließ die Gespräche einfach aufnehmen, um die MP3-Datei am heimischen Schreibtisch in New York auszuwerten. Aus dem Material bastelte sie einen munteren Text und spickte ihn mit literarischen Anspielungen. Den schickte sie in wöchentlichen Lieferungen zurück nach Mexiko City, wo ihn sich die Arbeiter gegenseitig vorlasen. Was sie im Anschluss beredeten, wurde wiederum aufgezeichnet und in New York einer weiteren Bearbeitung zugeführt.

Dagmar Ploetz hat "Die Geschichte meiner Zähne" als drittes Buch der Autorin aus dem Spanischen in ein lebhaftes Deutsch gebracht. Der Leser hält also womöglich eine große Sache in Händen: eine Wiederbelebung des Fortsetzungsromans, wie ihn Balzac und Dickens prägten, mündlich vitalisiert durch die ebenfalls im 19. Jahrhundert ersonnene kubanische Tradition, den Arbeitern in den Tabakfabriken zur Unterhaltung vorzulesen. Aber merkt er das auch? Hat er beim stillen Lesen den Eindruck, am Vergnügen beteiligt zu sein, das Autorin und Arbeiter teilten? Oder kommt er sich vor wie das letzte Glied einer Verwertungskette?

Tatsächlich betreibt Valeria Luiselli offensives Recycling. Das ist ihr ästhetisches Programm. Ihr Erzähler, der den Namen Gustavo Sánchez Sánchez und den Spitznamen Carretera (Straße) trägt, formuliert das folgendermaßen: "Ich bin so etwas wie ein Sucher im Müll. Aber mit Klasse. Ich siebe aus, entdecke. Ich aromatisiere, säubere und desinfiziere. Kurzum, ich recycle." Das hilft ihm gegen die "Angst vor der Irrelevanz". Und es ist natürlich auch das Programm der fortgeschrittenen Moderne.

Die Grundpfeiler des Plots sind schlicht, aber witzig. Carretera hat scheußliche Zähne, krumm und breit wie Paddel. Und da er mit seiner ersten Ehefrau nicht zufrieden ist, braucht er ein neues Gebiss, um wieder auf Brautschau zu gehen. Doch wie soll er es bezahlen? Zunächst will er ein Buch schreiben. Er hat gehört, das sei lukrativ. Doch dann erfährt er, dass ein Kollege aus der Saftfabrik, für die er seit Jahren arbeitet, als Auktionator reich geworden ist. Also tut er es ihm nach. Von Bratislava bis Tokio verscherbelt er Gegenstände, seine Verkaufsmethoden bildet er rhetorischen Figuren nach. Bald hat er sich ein neues Gebiss erwirtschaftet. Und es ist nicht irgendein Gebiss: Es stammt aus dem Mund von Marilyn Monroe.

Seine Arbeit als Wachmann in der Saftfabrik scheint vor allem aus dem Absolvie-ren von Kursen zu bestehen. Von Erster Hilfe über die Kontrolle von Angstzuständen bis hin zu Seminaren über Neurolinguistisches Programmieren hat er alle durchlaufen. In einem Tanzseminar lernte er seine erste Frau kennen und gleich auch drei weitere Frauen, die er eine nach der anderen heiratet. Sein Sohn aus erster Ehe heißt Ratzinger. Kaum ist er erwachsen, foltert er den Vater mit einer Multimedia-Performance. In Endlosschleife führt er ihm Clownsbilder vor und befeuert dessen größte Angst: zum gedemütigten Clown zu werden, den keiner mehr ernst nimmt.

Valeria Luiselli würzt ihren Plot mit bekannten Eigennamen, von Euripides und Plinius bis zu Daniil Charms, Dostojewski und Ludwig Wittgenstein. Mit den historischen Personen haben sie allerdings nichts gemein. Gerne firmieren sie als Onkel des Erzählers oder als Nachbar (wie "Julio Cortázar"), als Fotograf und Hilfspolizist (wie "Winifredo G. Sebald") oder gar als entlassener Kassierer der Spar-Apotheke, der ausgerechnet den Namen "Primo Levi" erhält. Die Komik dieses Eigennamen-Potpourris wirkt arg forciert. Erstaunlicherweise bekommen die Namen gerade durch das Fehlen der Referenz etwas seltsam Degoutantes: Sie werden zu Gesten literarischer Aufwertung. Die Versteigerung von Philosophen-Gebissen in einem Altersheim hat dagegen echten Witz. Denn die Porträtierten bleiben kenntlich, etwa Montaigne im Kontrast von sprachlicher Raffinesse und Ungeschicklichkeit in Alltagsdingen.

"Die Geschichte meiner Zähne" ist ein Spektakel des Fake. Während sie ihren komischen Kauz über Attraktivität, Vitalität, Sexualität und Erzählen sinnieren lässt, bedient sich Valeria Luiselli nicht nur bei Jorge Luis Borges und Lewis Carroll, sondern auch beim Hyperrealismus eines Jean Baudrillard. Am Ende hofft man, auch die Einladung der Galerie Jumex möge ein Fake sein. Dann wäre der Ernst, mit dem sie in ihrem Epilog von einem "Produkt der Zusammenarbeit" spricht, eine Persiflage auf das obszöne Zusammenspiel von Kunst- und Finanzmarkt.

Wahrscheinlich aber ist der Epilog wahrhaftig und damit ein weiteres Indiz dafür, dass der Diskurs, der sich um Kunstwerke bildet, immer mehr zu gedanklicher Willkür tendiert. Bekannte Namen, künstlerische Verfahren, kritische Posen, Theorien - alles kann gemixt werden, wenn es nur dem Ziel dient, Kunst als Geldanlage aufzuwerten. Für die Schriftstellerin, die das durchschaut, mag die Sache aufgegangen sein. Der Leser aber fühlt sich betrogen: als habe man ihm einen schweren Brocken zum Kauen hingeworfen, der sich als heiße Luft erweist.

Valeria Luiselli: Die Geschichte meiner Zähne. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Antje Kunstmann, München 2016. 192 Seiten, 18,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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