Meisner und die "entartete" Kunst:Vor dem Verlust der Mitte

Der Feldzug, den Kardinal Meisner derzeit in Kunstdingen führt, hat eine klare Stoßrichtung: gegen abstrakte und für figürliche Kunst. Doch der "Verlust der Mitte", den die Moderne brachte, ist auch im Gefühlskern christlicher Kunst angelegt.

Gustav Seibt

Der Kölner Kardinal Meisner hat gar nicht unrecht, wenn er sagt, die schönsten Menschenbilder Europas seien Bilder von Christus, Maria und den Heiligen. Man muss nur fragen, welche Bilder er meint. Meint er die blutüberströmten, asthenischen Schmerzensmänner der spätmittelalterlichen Skulptur oder den athletischen, mit gebietender Hand richtenden, als neuer Apollo aus blauem Himmel hervortretenden Christus in Michelangelos Jüngstem Gericht?

Meisner und die "entartete" Kunst: Führt einen Feldzug gegen abstrakte Kunst: Der Kölner Kardinal Meisner.

Führt einen Feldzug gegen abstrakte Kunst: Der Kölner Kardinal Meisner.

(Foto: Foto: dpa)

Meint er die suggestiv gequälten, von Pfeilen durchbohrten nackten Sebastiansfiguren der barocken Malerei? Meint er weibliche Heilige, denen man ihre abgeschnittenen Brüste auf Silbertabletts zum Zeichen ihres Martyriums vor die nach oben gedrehten Augen hält?

Oder doch eher die grotesken Monstren und grausig geöffneten Höllenschlünde der hochmittelalterlichen Kirchenplastik oder das leibhaftig brutzelnde Inferno, das uns nicht nur Dantes Göttliche Komödie, sondern auch so manches Goldgrundbild von Rhein und Maas ausmalt?

Vielleicht zieht Meisner zarte Madonnen vor, die mit spitzen Fingerchen an einer Rose riechen, während unten im Gras der kleine Jesus und der kleine Johannes mit einem Lämmchen spielen. Wenn er ein Mann von Geschmack ist, dann wird er vielleicht würdige Apostelfiguren besonders schätzen, die mit gebauschten Togen wie antike Rhetoren in die Kirchenschiffe grüßen.

Der Feldzug, den der Kardinal derzeit in Kunstdingen führt, und den er mit seiner Kritik an Gerhard Richters Kölner Domfenster begann, hat eine klare Stoßrichtung: gegen abstrakte und für figürliche Kunst; für eine Kunst, die - durch das "Menschenbild" - im übergeordneten Zusammenhang einer christlichen "Kultur" eingeordnet ist und kein Selbstzweck sein darf, sondern der "Gottesverehrung" dienen soll; für eine Kunst also, die den modernen "Verlust der Mitte" nicht für sich gelten lässt. So äußerte sich Meisner jetzt zur Eröffnung des Museums "Kolumba", des neuen Kölner Diözesanmuseums.

Man darf, wenn man diese Position erörtert, die Vokabel "entartet", die der Kirchenfürst gebrauchte, zunächst auf sich beruhen lassen. Sie bedeutet entweder eine Eselei oder eine Provokation (mutmaßlich beides), die bestenfalls Anlass zu einem leichten Sieg gäbe. Man sollte ihn den Politikern und der innerkirchlichen Kritik überlassen.

Wer aber, angeregt von Meisner, Hans Sedlmayrs Klassiker "Verlust der Mitte" noch einmal liest, der wird eine beeindruckende Analyse der neuzeitlichen Kunstentwicklung seit 1800 entdecken und zugleich die Zwangsläufigkeit der von Sedlmayr apokalyptisch verdammten Tendenzen erkennen. Ja, die Bauaufgaben haben sich wegentwickelt von Kirche und Palast - aber sollten wir deshalb keine Theater, Bahnhöfe oder Bürohäuser mehr bauen?

Ja, die Architektur ist "geometrisch" geworden, sie verleugnet vielfach die Schwerkraft - aber soll man deshalb auf Glas und Stahl verzichten? Die Stile sind beliebig wählbar geworden - sollen wir im Gegenzug aufs historische Gedächtnis verzichten? Jede der deskriptiv brillanten Diagnosen Sedlmayrs führt in eine ausweglose Frage, wenn man sie normativ wendet.

Martyrium und Mitleid

Man muss gar nicht die Abstraktion von Hegels Ästhetik erklimmen, die den aufgeklärten Gottesbegriff der christlichen Theologie für nicht mehr kunstfähig erklärte, es genügt vollkommen, auf die materiellen Bedingungen der modernen Welt hinzuweisen, um zu erkennen, warum es mit der alten christlichen Kunst vorbei ist. Nicht nur die Kunstaufgaben haben sich fast grenzenlos diversifiziert, die Kunst selbst hat eine Dynamik angenommen, die sie von "Aufgaben" im traditionellen Sinn weitgehend entbunden hat.

Diese Erkenntnis aber verändert auch den Blick zurück. Wer von der Moderne aus auf die christliche Vergangenheit der Kunst vor dem angeblichen Verlust der Mitte blickt, der wird dessen Ursprünge nicht zuletzt im Christentum selbst entdecken. Was sie von der antiken Kunst unterscheidet, ist die Hochspannung der Gefühle.

Angst und Hoffnung liegen in ihr eng beieinander, ebenso wie Grausamkeit und Erbarmen. Sie kennt die Hölle und die Erlösung, das Martyrium und das Mitleid. Die Antike feiert das Dasein im Pathos edel genormter Formen, doch die Gefühlsamplitude bleibt meistens gering, gestimmt auf einen gleichmäßigen hohen Ton, den nur seltene humoristische Akzente unterbrechen.

Vor dem Verlust der Mitte

Das bis heute wirkende Erbe christlicher Kunst sind Drama und emotionaler Exzess, geboren aus der Spannung von Sündenbewusstsein und Erlösungshoffnung. Die Exzesshaftigkeit der katholischen Barockmalerei hat den klassizistisch gestimmten Protestanten Goethe in Italien so verstört, dass er noch Jahrzehnte später fragte, wie man solche widrigen Gegenstände malen könne.

Meisner und die "entartete" Kunst: Sakrale Kunst: Diese junge Frau schaut sich die Ausstellung im Kolumbadem neuen Diözesanmuseum in Köln an.

Sakrale Kunst: Diese junge Frau schaut sich die Ausstellung im Kolumbadem neuen Diözesanmuseum in Köln an.

(Foto: Foto: AP)

Das zweite Erbe des Christentums in der Kunst ist der schonungslose Realismus vor allem in der Malerei. Gott war Mensch geworden als Handwerkersohn und wurde geboren bei Schafhirten. Daraus hat die Kunst in immer neuen Anläufen eine Zuwendung zur einfachen Lebenswirklichkeit gemacht, deren Höhepunkte bei Caravaggio und Rembrandt zu finden sind: Da haben Apostel schwielige Füße, und die Propheten sind kurzsichtige Greise.

Der moderne Impressionismus mit seiner Liebe zum zufälligen Bildausschnitt und zur Poesie des alltäglichen Lebens wäre nicht denkbar ohne den christlichen Vorlauf. Und sind nicht die Bauernschuhe van Goghs in ihrer Schlichtheit "evangelisch"?

Radikale Zuwendung zum Besonderen

Der "Verlust der Mitte", den die Moderne brachte, ist im Gefühlskern christlicher Kunst schon angelegt, in einer emotionalen Überhitzung, die Angst und Gottverlassenheit meist viel suggestiver zur Anschauung brachte als das Leuchten des Jenseits. Dieses delegierte man gern an die Lichteffekte der Kirchenfenster, sei es in den Farbkaskaden der hochmittelalterlichen Glasmalerei, sei es in den indirekten Beleuchtungen der barocken Kirchenraumkunst. Aber vor den Strahlen vom Hochaltar wanden sich die Märtyrer in Qualen.

Ja, der Mensch mag, wie Meisner sagt, nie nur profan, sondern auch sakral sein. Was heißt das für die Kunst? Doch schwerlich anderes, als dass sie den Menschen als beseeltes Individuum zeigen muss. Als das Christentum entstand, um die Zeitenwende, hatte die antike Kunst in den römischen Porträtbüsten und in den dunkeläugigen Mumienbildnissen aus Fayum dieses unverwechelbare Individuum zum ersten Mal in vollkommen moderner Psychologie gezeigt. Hier ist ein kultureller Zusammenhang, den die Neuzeit wiederholt hat.

Die Reihe von Porträts, die von Tizian über Velazquez bis hin zu Goya einen überwältigenden Zusammenhang bildet, eine Galerie stolzer, versehrter, unglücklicher, gewinnender Menschen, jeder anders, sie kommt auch aus der christlichen Liebe zum jeweils Einzelnen, der einen Funken Gottes in sich trägt.

Aber wer könnte leugnen, dass in dieser radikalen Zuwendung zum Besonderen schon der Keim dessen liegt, was dümmere Zeiten dann "Entartung" nannten? Die Radikalität des Christentums selbst hat die Kunst immer wieder dazu angespornt, die normativen Grenzen der "Kultur" zu überschreiten.

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