Megacity Mexiko-Stadt:Eine harte, verlockende Droge

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Wo der Tod als Gottheit verehrt wird: In Mexikos Kapitale gibt es Sex, Gewalt, Schmuggel und das billigste Essen der Welt.

Guillermo Fadanelli

Vom kommenden Jahr an wird die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten leben. Schon 2015 wird es weltweit 60 Megacitys geben, in denen mehr als 700 Millionen Menschen zu Hause sein werden. Zehn Schriftsteller aus zehn der größten Städte der Welt haben ihren Heimatort beschrieben. Sie haben Briefe geschickt aus den Zentren des Chaos, die uns viel näher sind, als wir dachten. SZ

Kein Weichzeichner, sondern Smog über Mexiko-Stadt. (Foto: Foto: AP)

Für unser aller Gesundheit wäre es besser, Mexiko-Stadt existierte gar nicht. Oft hat man den Eindruck, dieser steinerne Wust, der sich einem Ausfall Gottes oder einem furchtbaren Missverständnis verdankt, könnte plötzlich in sich zusammenfallen.

Doch die erhoffte Implosion bleibt ewig aus. Einer gängigen Hypothese zufolge ist der Zusammenbruch allerdings längst eingetreten - nämlich vor knapp 50 Jahren, als die Bevölkerung wie ein Krebsgeschwür zu wuchern begann und der damalige Präsident López Portillo erklärte, dass wir lernen sollten, reich zu sein und die Ölfelder auszunutzen, die der Zufall in unsere Erde gesenkt hatte. Reichtum und Verschwendung, Überfluss und Elend sind die Zeichen unseres Landes, und die Hauptstadt ist dessen Bauchnabel, ein schwindelerregendes schwarzes Loch, in das die Gesellschaft hineinstürzt.

Ich erinnere mich, dass meine Eltern mir gegen Ende der sechziger Jahre, noch bevor ich sieben Jahre alt war, erlaubten, ohne Begleitung Erwachsener zur Schule zu gehen. Seinerzeit herrschte in der Stadt noch nicht die bedrückende Atmosphäre unserer Tage, die jederzeit und überall auch dort in wahrhaftige Bedrohung umschlagen kann. Damals gab es weder so viele Waffen wie heute noch jene vier Millionen Autos, die sich inzwischen über die Avenidas quälen.

Unterirdische Hässlichkeit

In den fünfziger Jahren wünschte sich Präsident Miguel Alemán, dass alle Mexikaner einen Cadillac, eine Zigarre und ein Ticket für den Stierkampf besäßen. Damals konnte man sich die Stadt noch als ein gestaltbares Ganzes vorstellen, und selbst in der Literatur gelang noch so etwas wie ein Gesamtporträt. Heute sind nur noch Teil-Annäherungen möglich, mithilfe breiter Pinselstriche, ausgehend von Motiven, die auf besondere Obsessionen oder Phobien zurückgehen.

Die Plätze, Kirchen und Pflaster der ältesten Viertel - San Angel, Coyoacán, Tacubaya oder Tlalpan - bieten noch immer das traditionelle Panorama: Postkarten für die Erfindung einer Phantasiestadt. Aber daneben gibt es Hunderte trostloser Trabantenviertel, in denen man ohne jedes Gedächtnis lebt, ausgegliedert, und ewig im eigenen kleinen Orbit kreist.

Ich habe fünf Jahre lang im Zentrum gelebt, nahe dem ehemaligen Convento de San Jerónimo. Dort sind eine Menge Kolonialbauten erhalten geblieben, außerdem Monumental-Architektur aus der Revolutionszeit, die eine Zukunft ausstatten sollte, auf die wir immer noch warten. Im Zentrum habe ich fast alles gesehen, Sex-Shows, Gewalt, Schmuggel, das billigste Essen der Welt, Drogenhandel, den blanken Schrecken angesichts der Realität. Aber auch die berühmten Restaurants, den wunderbaren Kaffee, die Kunstszene, die Volksfeste...

D.H.Lawrence schildert in seinem Roman "Die gefiederte Schlange" die Gefühle, die seine Protagonistin Mexiko-Stadt entgegenbringt: "Kate war schon in vielen Städten der Welt gewesen, aber Mexiko besaß eine unterirdische Hässlichkeit und eine Bösartigkeit, gegen die Neapel fast wie eine elegante Stadt wirkte. Sie hatte Angst, Angst, dass sie etwas in dieser Stadt berühren und mit seinem schleppenden Gift anstecken könnte."

Mexiko-Stadt ruft gegensätzliche Reaktionen hervor: Gewaltige Angst - als Folge jener Schlechtigkeit, die an jeder Ecke lauert; und gleichzeitig eine gewisse ungesunde Zärtlichkeit. Einerseits sind wir außerordentlich liebenswürdig, tragen ein offenes Lächeln, sind bereit, unser Hab und Gut an einen Fremden wegzugeben. Andererseits lässt uns fremdes Leid so kalt wie die Korruption oder alle Scheinheiligkeit. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schrieb der mexikanische Dichter Amado Nervo: "In diesem Land verstehen die Leute nicht zu gehen und stoßen einen deshalb ständig mit den Ellenbogen an. Es kann aber auch gar nicht anders sein: Bei einer derartigen Regierung, mit derartigen Straßen und bei einer derartigen Bevölkerung."

Höflichkeit fehlt noch immer auf den Straßen, und die Polizei kann schon deshalb nicht für Ordnung sorgen, weil sie selbst ein Teil der Unordnung ist. Jener Platz auf den Straßen, der eigentlich den Autos vorbehalten ist, hat sich in eine Art öffentliches Flöz verwandelt, den ausbeuten kann, wer will. Tausende leben davon, ein Stück öffentlichen Raum zu vermieten, der ihnen gar nicht gehört. Ganze Gangs verwalten solche Parzellen. Fliegende Händler bemächtigen sich des Bürgersteigs, befehligt von Anführern, die Abgeordnete und andere Autoritäten bestechen.

Der öffentliche Nahverkehr funktioniert wunderbarerweise, weil er fast die gesamte Bevölkerung jeden Tag in die verrücktesten Richtungen befördern muss. Millionen von Arbeitern verlassen morgens um fünf das Haus, um drei Stunden später am Arbeitsplatz anzukommen.

Die U-Bahnen sind voller Menschen, die keine Zeitung lesen, kein Buch in die Hand nehmen und kein Gespräch führen. Sie legen ihren Weg stumm zurück. Mitunter tönt das Geschrei eines Händlers durch den Waggon oder das Heulen eines Kindes, und immer wieder das Getrappel der menschlichen Stampede, die bei jedem Öffnen der Türen losbricht. Die Metrostationen Pantitlán, Indios Verdes oder Taxqueña sind Städte für sich, voller ambulanter Geschäfte und Stände mit fettigem Essen.

Das Bewusstsein, mitten im Trubel ein Bürger mit Rechten zu sein, der von den Behörden geschützt wird, existiert nicht. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, muss überleben, ohne sich beschweren zu dürfen, und wartet dabei aufs alltägliche Wunder: die milde Gabe, die auch ein Bestechungsgeld sein kann. Unsere Regierenden, ob Linke oder Rechte, kontrollieren das öffentliche Leben kaum. Sie sind ein Stamm mehr: der Stamm der Beamten, die nicht regieren können.

"Die Lüge ist jung und hübsch, die Wahrheit alt und hässlich", schrieb Manuel Gutiérrez Nájera, der die Stadt Ende des 19. Jahrhunderts durchstreifte, als sei sie ein Abenteuer. Damals war die Stadt eine Lüge - ein Anfang: Es gab Straßenbahnen, das Hippodrom, die Cafés, den ganzen an Frankreich orientierten Ehrgeiz des langen Regimes von Porfirio Díaz (1876-1910). Heute ist die Wahrheit alt und hässlich, und uns fehlt eine erzählbare Stadt. Stattdessen leben wir auf einem Territorium, auf dem alle ehemaligen Städte mit den Keimzellen aller künftigen Städte zusammenleben.

Wer heute durchs Tepito-Viertel geht, befindet sich in einem selbstverwalteten Bezirk. Die Anführer, die Boxer, die mächtigen Kriminellen, die Schmuggler und Crack-Dealer, die unterirdischen Bodegas und die Geheimgänge, die Gewissheit der Alteingesessenen, dass sie auf die Polizei nicht rechnen brauchen - das alles sind Teile eines Zoos, den man zu den erfolgreichsten der Welt zählen darf.

Sehnsucht nach dem See

Alle zwei Jahre entert die Polizei, bis an die Zähne bewaffnet, das Viertel, nimmt Gefangene, stellt Drogen und Diebesgut sicher. Aber das ist eher ein Spektakel fürs Fernsehen. Am nächsten Tag zieht die Polizei ab und die frühere Geschäftigkeit wird wieder aufgenommen: Nichts geht über die Freude am Überleben.

Ich bin mitternachts in den Gassen von Tepito unterwegs gewesen, zwischen Besoffenen, Schlafenden, Müll und Exkrementen, in dunklen Ecken, wo man Kokain und Pillen zu jeder Tageszeit kaufen kann. In den Stadtteilen Doctores, Obrera oder Morelos, in Insurgentes Norte und vielen zentralen Vierteln bleibt das Licht nachts angeschaltet und das Kokain-Geschäft geht weiter, die Transvestiten und die Huren schließen sich gegen die Schikane der Polizei zu kleinen Gruppen zusammen.

Die Nacht steckt voller Gewalt - auch wenn sich fast immer verhandeln lässt. Im Viertel La Merced sind die jüngsten Huren für zehn Dollar zu haben. Und wenn man bereit ist, ein Bier zu bestellen, kann man eine Live-Sex-Show besuchen und gleich selbst mit einsteigen.

Die Polizisten streunen herum auf der Suche nach Brot und jagen den Betrunkenen nach, um sie auszurauben. Es gibt Tausende verborgene Absturz-Kneipen, in denen all jene ausharren, die die letzte Metro verpasst haben. Die U-Bahn schließt nachts um halb eins, Nachtbusse gibt es kaum. Die Taxifahrer kassieren Phantasiebeträge, weshalb es meist besser ist, in einer Bar oder in einem Park zu warten, bis die Metro wieder aufmacht.

Die Freuden des Paradieses wären nichts gegen die Freude, die es uns machen würde, statt der Stadt noch einmal jenen See zu sehen, an dessen Stelle Mexiko-Stadt einst emporwuchs. Das Wasser hat sich in steinerne Schwaden verwandelt. Oder, wie es in einem Gedicht von José Emilio Pacheco heißt: "Der tote See in seinem Sarg aus Stein."

Lizenz für Lärm und Totschlag

Und sie bewegt sich doch, die Stadt, hellwach in ihrem Sarg, und bezaubert dich, beunruhigt dich und treibt dich zur Verzweiflung. Ich sage mir das, während ich dem Ardalios entgegengehe, einer Kneipe in Escandón, die bereits um sieben Uhr morgens aufmacht. Ich trinke Bier mit Tomatensaft, während die Kellner gähnend den Boden fegen. Die Avenida Revolución füllt sich allmählich mit Autos, die Jogger bemächtigen sich der Parks, in denen die Straßenköter eben noch die Müllbeutel durchschnüffelt haben, die im Morgengrauen plötzlich überall neben den Bäumen liegen.

Escandón ist eines der Viertel, die von Neubauten zerstört werden. Eigentlich passt kein neues Gebäude, nicht mal ein neues Auto hinein, und trotzdem wird, offiziell genehmigt, weiter gebaut. Überhaupt braucht man sich nur ein wenig anstrengen, und schon bekommt man alles genehmigt: Baupläne, Lärm oder Totschlag.

Von Escandón aus ist man in zehn Minuten in einer komplett anderen Stadt, in einer Stadt voll kosmopolitischen Flairs, durchsetzt von großen Hotels, raffinierten Restaurants, Museen und Business-Centern: Las Lomas, Polanco oder Condesa. Die Großbourgeoisie und viele Geschäftsleute geben Unsummen dafür aus, sich den Rücken freizuhalten.

Vorteile der Hölle

Sie fahren in gepanzerten Wagen, bewacht von bewaffneten Sicherheitsleuten. Sie haben Angst vor Überfällen, vor allem vor einer Entführung. In dieser Atmosphäre ist es kein Wunder, dass die Verehrung des Todes, der Santa Muerte, sich immer weiter ausbreitet. Noch ist Judas Thaddäus der am stärksten verehrte Heilige der Stadt, doch der Tod - dargestellt durch einen Totenschädel, der in einem Kapuzenmantel steckt - holt auf. Es handelt sich um eine unterirdische Gottheit, erst in jüngsten Jahren aufgestiegen, verehrt in geheimen Messen und in manchen Kirchen der Armenviertel.

In Mexiko-City berühren sich die Extreme mitunter im gleichen Brandherd. Ein gutes Beispiel dafür bieten die beiden großen Fernseh-Sender. Vor ein paar Jahren ging am Rande des Zentrums ein zwanzigstöckiges Gebäude in Flammen auf. Noch bevor die Feuerwehr anrückte, waren die Hubschrauber mit den Kameras da.

Der Feuerwehreinsatz war enttäuschend. Anders als die Medienunternehmen verfügten die Rettungskräfte weder über die nötige Ausrüstung noch über das Personal, um der Katastrophe Herr zu werden. Die Feuerwehrleute wurden ebenso zu Zuschauern wie die Leute vor dem Fernsehschirm. Das Spektakel galt plötzlich mehr als das öffentliche Gut.

Mexiko-Stadt ist eine harte, verlockende Droge, die leicht abhängig machen kann. Wenn man nicht aufpasst, endet man als ein kleiner Brocken des steinernen Sees. Doch die verunglückte Geografie der Stadt und ihre verrückte Bewegtheit, ihr obsessives Verhältnis zum Tod und ihre gewaltigen Kontraste wirken magnetisch auf Künstlernaturen aller Art. Die Hölle hat ohne Zweifel ihre Vorteile.

Deutsch von Merten Worthmann

Die Stadt und ihr Autor

Als die Azteken 1325 auf einer Insel im Texcoco-See ihre Hauptstadt Tenochtitlan gründeten, waren sie einer Prophezeiung gefolgt: Ein Adler mit einer Schlange in den Klauen würde ihnen den Ort zeigen, wo sie sich niederlassen sollen. 1520 eroberte Hernan Cortes mit seinen Truppen die Inselstadt, in der damals mehr als 200000 Indianer lebten.

In den fünfziger Jahren explodierte Mexiko-Stadt: Heute leben im Districto Federal, zu dem auch die Millionenstädte Ecatepec und Nezahualcoyotl gehören, um die 20 Millionen Menschen. Das 5140 Seiten dicke Telefonbuch führt allein 130 Seiten mit dem Namen Gonzalez. In organisatorischer Sicht ist diese Megalopolis eine einzige Katastrophe, da alle Stadtplanung nur eine Aneinanderreihung isolierter Maßnahmen ist.

Andererseits hat das den Vorteil, dass die Ciudad de Mexico bislang ein bunter Flickenteppich aus vielen unterschiedlichen Stadtteilen blieb. Im Gegensatz zu vielen asiatischen Megacities, in denen durch zentralistische Stadtplanung oft alle lokalen Eigenheiten eingeebnet werden, konnten sie ihren Charakter bewahren.

Guillermo Fadanelli wurde 1960 in Mexiko-Stadt geboren, wo er heute noch lebt. Er ist Begründer der Zeitschrift Moho und des gleichnamigen Verlags. Fadanelli gilt als König des mexikanischen Underground, er organisierte schon früh Ausstellungen und unabhängige Filmfestivals. Für sein Werk "La otra cara de Rock Hudson", in dem er ein Vorstadtviertel von Mexiko-Stadt als Labyrinth aus Drogen, Prostitution und Gewalt zeichnet, gewann er den Premio nacional de Literatura. Er ist in diesem Jahr Gast des DAAD in Berlin.

© SZ v. 16.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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