Megacities:Gottes Daumenkino

Als hätte ein besoffener Urbanist einen Farbeimer umgetreten: Ein wissenschaftliches Projekt zeigt das Wuchern der Megacities - von oben. Die Bilder.

16 Bilder

Manila

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Als hätte ein besoffener Urbanist einen Farbeimer umgetreten: Ein wissenschaftliches Projekt zeigt das Wuchern der Megacities - von oben.

Wenn es einen Gott gibt, der uns von irgendwo da draußen zusieht, dann muss er längst zu einem kosmologischen Hautarzt gegangen sein und im betretenen Ton einer Beichte gesagt haben: "Es gibt da so eine unbedeutende Galaxie, in der hab ich vor einiger Zeit mal herumexperimentiert mit verschiedenen Lebensformen."

Manila, 1975

Text: SZ vom 16.11.2010/Alex Rühle/sueddeutsche.de/kar/lena

Manila

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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"Ich konnte mich ein paar Äonen lang nicht kümmern, zu beschäftigt mit Wichtigerem. Aber was soll ich sagen, jetzt hab ich mal wieder geschaut . . ." Und dann würde der kosmische Demiurg dem kosmischen Dermatologen mit ratlosem Blick diese Bilder rüberreichen.

Manila, 1988

Manila

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Die Ausbreitung einer Pilzkrankheit? Ein Hirntumor, der sich rasend schnell an Neuronenbahnen entlangfrisst? Eine Gigathrombose? Oder die Explosion einer Druckerpatrone? Hätten andere, zukunftsfrohere Zeiten lichtere Assoziationen zu diesen Aufnahmen gehabt?

Manila, 2000

Manila

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Die Bildreihen, die das Deutsche Fernerkundungsdatenzentrum (DFD), ein Institut des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), momentan aus Satellitendaten der vergangenen 38 Jahre zusammensetzt, sind monströs und gleichzeitig wunderschön und erhellend.

Manila, 2010

Jakarta

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Die obere Abfolge zeigt die Ausdehnung der indonesischen Hauptstadt Jakarta seit 1975, unten kann man Manila dabei zuschauen, wie es sich quasi über Nacht von einer idyllischen Hafenstadt in eine 16-Millionen-Metropole verwandelt. Unter Federführung der Geographen Stefan Dech, Hannes Taubenböck und Thomas Esch extrahiert das DFD aus den Aufnahmen Bildreihen, ähnlich wie bei einem gigantischen Daumenkino, um erstmals alle Megacities der Welt in ihrem räumlichen Wachstum zu kartieren.

Jakarta, 1975

Jakarta

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Dass wir aus diesem globalen Projekt zwei asiatische Städte abbilden, ist kein Zufall: Nirgends sonst wuchern die Städte so schnell ins Umland wie in Asien. Das liegt zum einen daran, dass sie heutzutage auf keinem anderen Kontinent eine ähnliche Sogkraft haben. 1972, als der erste Satellit der Landsat-Reihe um die Erde zu kreisen begann, glich Manila einem Perlencollier entlang der Pazifikküste.

Jakarta, 1990

Jakarta

Quelle: Deutsches Zentrum für Lu

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Heute gibt es in Asien dreimal so viele Metropolen wie in der westlichen Welt, allein in China wächst alle zwei Wochen eine Stadt über die Millionengrenze hinaus, im Jahr 2050 werden drei Viertel der Chinesen und vier Fünftel der Indonesier in Städten leben. Die Fläche von Jakarta hat sich seit Beginn des kommerziellen Satellitenzeitalters verachtfacht.

Jakarta, 2000

Jakarta

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Zum anderen fressen sich die asiatischen (und einige afrikanische) Megacities auch deshalb so rasend schnell ins Umland, weil ihr architektonisches Grundmodul ein eingeschossiges, windschiefes Irgendwas ist, mit stadtplanerisch gestalteter Expansion hat dieses Wachstum wenig zu tun, dessen Motor ja vor allem die Not ist:

Jakarta, 2010

Seoul

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Der indische Soziologe Darryll d'Monte schrieb in einem Buch über die Bevölkerungsexplosion Mumbais: "They aren't pulled, they're pushed." Soll heißen: Es sind keine romantischen Glitzerträume, die die Menschen anziehen, die meisten werden durch die Not in die Städte gespült und wissen darum, was sie hier erwartet: Ein Leben in den Slums, mit viel Glück ein Job als Erdnussverkäufer auf einer Straße, auf der der Verkehr sich dahinwälzt wie eine Schlammlawine.

Seoul, 1975

Seoul

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Hochhäuser brauchen wenig Platz, Großstädte in den Industrienationen, die in den vergangenen Jahrhunderten in konzentrischen Kreisen um ein historisches Zentrum wuchsen, dehnen sich mittlerweile meist nur noch in die Höhe aus, auf den Satellitenbildern könnte man das New York von 1975 mit dem von heute verwechseln. Jakarta hingegen sieht aus, als hätte ein sturzbesoffener Urbanist einen riesigen Eimer ins Hinterland geschwappt.

Seoul, 1989

Seoul

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Diese Städte sind Umwälzpumpen, die alle gestalterischen, infrastrukturellen Pläne sofort verschlingen. Oder wie es der Schriftsteller Guillermo Fadanelli, der in Mexiko-Stadt beheimatet ist, einmal ausdrückte: "Anfang der siebziger Jahre, als ich ein Kind war, konnte man sich die Stadt noch als ein gestaltbares Ganzes vorstellen, selbst die Literatur war noch zu so etwas wie einem Gesamtporträt in der Lage. Heute sind nur noch Teil-Annäherungen möglich, Irrgänge".

Seoul, 2001

Seoul

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Es sei denn, man katapultiert einen TerraSAR-X-Satelliten 500 Kilometer hoch in den Orbit und schaut den Städten von dort droben aus zu.

Seoul, 2010

Delhi

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Oftmals haben sich, ähnlich wie in Bernstein, in den Ortsnamen der vom DFD erfassten Städte Spuren des Lebens erhalten, aus denen man erahnen kann, wie es ursprünglich um die Orte herum ausgesehen haben mag: Bangkok bedeutet wörtlich "Dorf im Pflaumenhain", Hanoi "Unterland zwischen den Flüssen".

Delhi, 1972

Delhi

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Das Wort Manila ist eine verschliffene Form des Wortes Maynilad: Ort der Nilad, einer weißen Mangrovenpflanze. Die Pflaumen- und Mangrovenhaine sind längst verschwunden, die Städte fressen in rasender Geschwindigkeit ihre Umgebung auf, sowohl indem sie sich diese einverleiben als auch im wörtlichen Sinne:

Delhi, 1988

Delhi

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Jakarta benötigt hundertmal mehr an Ressourcen, als seine eigene produktive Fläche hergibt. Und in Manila, wo einst weiße Mangrovenblüten wuchsen, werden heute Tag für Tag 7000 Tonnen Abfälle produziert.

Delhi, 2000

Delhi

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt

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Der Dermatologe übrigens beugte sich über die Bilder, schaute Gott an und sagte: Tut mir leid, da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen.

Delhi, 2010

© SZ vom 16.11.2010/kar
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