Medienvirus Schweinegrippe:Erreger und Erregte

Selbst Stephen King beginnt sich zu gruseln. Virus im Weihwasser und kranke Promis als Bildergalerie: Wie die Schweinegrippe zur Medien-Epidemie wird.

Tobias Moorstedt

Der King of Horror bekommt es in diesen Tagen bei der Zeitungslektüre mit der Angst zu tun. "Ich fühle mich manchmal, als erlebten wir eine Szene aus meinen Büchern", sagte Stephen King kürzlich über die neue Grippe. Im Roman "The Stand" zum Beispiel tötet das Virus "Captain Trips" in wenigen Wochen 99,4 Prozent der Bevölkerung - im zweiten Teil des Buchs kommt es dann zur letzten Schlacht zwischen Gut und Böse.

Medienvirus Schweinegrippe: 2009 fanden weder Olympische Spiele statt noch eine Fußball-Weltmeisterschaft, und so wurde H1N1 zum dominanten Medienevent.

2009 fanden weder Olympische Spiele statt noch eine Fußball-Weltmeisterschaft, und so wurde H1N1 zum dominanten Medienevent.

(Foto: Foto: afp)

Stephen King hat das so geschrieben, und er stört sich trotzdem an den schrillen Stimmen zur Swine Flu, an den Bildern mit weinenden Kindern, Beatmungsgeräten und "diesen verdammten Atemschutzmasken". Auf Titelblättern und Bildschirmen herrscht die Ikonographie des Katastrophenfilms. King: "Wir haben eine apokalyptische Mentalität. Und die Medien verstärken diesen Trend." So weit ist es also gekommen. Der Schriftsteller, in dessen Büchern Autos zum Leben erwachen und sich untote Haustiere selbst Gassi führen, bittet um Contenance.

2009 fanden weder Olympische Spiele statt noch eine Fußball-Weltmeisterschaft, und so wurde H1N1 zum dominanten Medienevent. Titelthemen, Brennpunkte, Sonderserien, Spezialausgaben und Interviews mit: Experten, Experten, Experten. Die Bild-Zeitung verwendet sogar eine spezielle Schrift für Titelzeilen im Zusammenhang mit dem Virus, einen grün-gelben Font mit unregelmäßigem Letternabstand und zittriger Linienführung. Die Botschaft ist klar: Fürchtet Euch sehr!

"Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien", schrieb Niklas Luhmann. Das war 1995, in den Anfangszeiten des globalen 24-Stunden-Nachrichtenkreislaufs und vor der Erfindung von iPhone, Blogs und Twitter. Was sich aber nicht geändert hat, ist: Menschen erhalten durch "die Medien" - Tageszeitungen, Boulevardblätter, Internet - Informationen, auf deren Grundlage sie Entscheidungen treffen. Es ist ein Warnzeichen, dass in vielen Zeitungen Leserbriefe abgedruckt sind wie dieser im Tagesspiegel Anfang November: "Ich möchte Sie bitten, bei Ihrer Berichterstattung über die Schweinegrippe auf seriöse Zahlen zurückzugreifen (...) es ist weder sinnvoll, in die eine noch die andere Richtung zu übertreiben oder Informationen zu verzerren."

Droht eine weitere Epidemie?

Was der Mann sagen will: Wann, wenn nicht in potentiellen Krisensituationen wie dem Auftauchen eines neuen Virus, muss man sich darauf verlassen können, dass Journalisten ihren Job machen, dass sie objektiv berichten, Fakten prüfen und Hintergründe recherchieren? Und er hat recht. Denn sind Hypes und Hysterie nicht das Letzte - was man in so einer Lage gebrauchen kann, kollektive Irrationalität und Massen in Bewegung?

Die erste Meldung in deutschen Tageszeitungen über die Schweinegrippe, die man im Archiv findet, erschien am 25. April in der Münchner Abendzeitung. Bereits da lautete die Schlagzeile: "Droht eine weltweite Epidemie?" Der Medienkonsument verfolgt seither den H1N1-Erreger dank moderner audiovisueller Technik live in seinem Ausbreitungsprozess.

Der amerikanische TV-Sender CNN präsentierte den Siegeszug der neuen Grippe im Frühsommer auf der "magic wall", einem überdimensionalen Touchscreen. Die Anchormen Wolf Blitzer und John King lasen Statistiken vor, berührten jedes Land, in dem die Grippe bestätigt worden war und färbten es rot ein. Bald leuchtete die ganze Welt in tiefem Rot, und fast kam es einem vor, als sei die Geste der Journalisten selbst infektiös, als erzeugten Fingerzeig und Mausklick den Unterschied zwischen gesund und krank.

Lesen Sie auf Seite 2, warum das "Impf-Chaos" zum großen Teil Produkt des Mediensystems ist.

Gegen Medienviren gibt es keinen Impfstoff

Noch nie konnte man eine potentielle Bedrohung so vom globalen Horizont auf sich zu rollen sehen, die steigende Zahl der Infizierten, die Pandemiestufen der WHO (1 bis 6), den Bodycount - schon 4 deutsche Opfer, schon 7, 11, 15, 23. Diese simultane Steigerungs- und Annäherungsbewegung wird von Zeitungen und TV-Sendern graphisch aufbereitet, dazu kommen die sogenannten Einzelschicksale.

Bild zeigte am 9. November das Bild einer 15-jährigen Schülerin, die an der neuen Grippe gestorben war. Bei einem Baby, das nach der Impfung starb, berichtete Bild in der vorigen Woche auch vom angeborenen Herzfehler des Kindes. Nicht immer aber werden in Medienberichten die Zahlen und Statistiken über die Grippe in einen Kontext gesetzt; nicht immer wird auf Vorerkrankungen der Opfer hingewiesen, dafür gibt es Lebensläufe und viele Fotos, die Homestory des Todes.

Die Gefahr bekommt durch die Opfer, die individuell vorgestellt und gezählt werden, ein Gesicht. Die Botschaft lautet: "Du kannst der Nächste sein!" Auch dieser Text ist Teil der thematischen Fixierung des Medienbetriebs. Journalisten schreiben über die neue Grippe, weil sie denken, dass es die Menschen interessiert und weil sie selbst an dem Thema interessiert sind. Aber sie schreiben auch darüber, weil andere darüber schreiben, und weil sie, wie der Medienforscher Hans-Matthias Kepplinger meint, die Blamage fürchten, wenn sie nicht mitmachen. "So kommt ein Rückkopplungsprozess in Gang, der sich hochschaukelt." Und wenn keine neuen Alarmmeldungen verfügbar sind, kommt es zu skurrilen Storys wie dem Agentur-Bericht über die Infektionsgefahr von Weihwasser oder dem Feature bei einem der vielen Internetportale: "Kranke Promis - klicken sie sich durch die Bildergalerie."

Der H1N1-Virus hat eine eigene Homepage. Unter www.neuegrippe.bund.de wendet sich das Bundesgesundheitsministerium mit Videos, Presseerklärungen und einer interaktiven Karte direkt an die Bevölkerung. Im Pandemieplan, den das Ministerium für die neue Grippe ausgearbeitet hat, findet sich zwar auch ein Abschnitt zu Kommunikation, aber selbst im Ministerium gibt man zu, dass der nicht "unbedingt auf die Wirklichkeit passt". Der Pandemieplan atme einen institutionellen Geist, sagt ein Sprecher, er stelle einen Informationsfluss von oben nach unten dar. "Wie man auf die dynamische und äußerst bunte Medienberichterstattung reagieren soll", so heißt es, "hat man sich nicht überlegt." Man sei wohl einfach davon ausgegangen, dass sich die Medien rational verhalten.

Im medizinisch-bürokratischen Komplex herrscht zwar auch keine absolute Einigkeit über zentrale Sachfragen wie Notwendigkeit und Unbedenklichkeit des Impfstoffs. Das "Impf-Chaos", das in unzähligen Artikeln und Sendungen angeprangert wird, ist aber zum großen Teil auch Produkt des Mediensystems selbst. Weil es einfacher, schneller und billiger ist, einen sogenannten Experten zu interviewen, als selbst Informationen zu sammeln und auszuwerten, sind die vielen Medienkanäle, Zeitungen, TV-Sender, Lokalradios und Internetportale permanent auf der Suche nach solchen Experten.

So kommen nicht nur anerkannte Fachleute und die Vertreter von Institutionen wie der Ständigen Impfkommission zu Wort, sondern Mediziner, Biologen und Chemiker, mit unterschiedlichem Meinungs- und Wissensstand. "Nicht alle Journalisten machen sich die Mühe die Qualität ihrer Quelle zu prüfen", sagt Susanne Glasmacher vom Robert-Koch-Institut. Handelt es sich bei dem Interviewpartner wirklich um einen echten Experten im hochkomplexen Feld der Virologie? Hat er Referenzen oder zu dem Thema publiziert? Es sind eigentlich ganz einfache Fragen.

Die Medien als "erweiteter Wirt"

Niklas Luhmann beschrieb die Arbeit der Massenmedien mal als "Dauertätigkeit des Erzeugens und Interpretierens von Irritationen". Das war gar nicht so negativ gemeint, wie es klingt, denn die Anregung durch aktuelle Informationen hält eine Gesellschaft nicht nur wach, sondern erzeugt auch eine Resonanz auf Umweltereignisse. Angesichts der aktuellen Nachrichtenlage muss man sich allerdings fragen, ob es nicht Zeit ist, den Begriff der "Irritation" sehr wörtlich zu verstehen. Der Strom aus Bildern und widersprüchlichen Informationen produziert einen Zustand der Verwirrtheit, der das Risikomanagement auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene erschwert.

Die Bild-Zeitung fragt regelmäßig "Wie gefährlich ist der Impfstoff wirklich?", und berichtet groß über Internet-Gerüchte, dass der Impfstoff das Golfkriegssyndrom auslösen könnte. Gleich daneben steht allerdings eine lange Liste der offiziellen Impfstationen, sowie die vorwurfsvolle Frage: Herr Minister, warum kann nicht jeder geimpft werden?

Oder anders formuliert: Handelt es sich bei dem Impfstoff womöglich um Gift? Und genauso dringlich stellt das Boulevard die Frage, ob von dem, was möglicherweise Gift ist, auch genug für alle da ist.

Manchmal in diesen Tagen erscheinen Medien selbst wie ein gefährlicher Erreger. Die Zweifel, Widersprüche und Fragen, die produziert werden, verhalten sich wie ein Virus (ein proteinumhülltes Datenpaket), sie speisen Informationen in den Gedankenkreislauf ein, provozieren einen entzündlichen Zustand und verbreiten sich rasend schnell in der Gesamtpopulation. Die Medien wirken für die neue Grippe als "erweiterter Wirt", wie es der Historiker Philipp Sarasin mal über den Zusammenhang zwischen Viren und Infogesellschaft geschrieben hat. Seit Ende April wurden dem Robert-Koch-Institut 86.654 Infektionen mit der neuen Grippe übermittelt, 34 Patienten starben. Doch das Virus infiziert nach dem Mechanismus, den Sarasin beschreibt, "den Vorstellungskomplex von Millionen".

Gegen Medienviren gibt es keinen Impfstoff.

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