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Mediaplayer: "Counterpunch" zeigt Heldengeschichten, aber keine richtige Erzählung.

"Counterpunch" zeigt Heldengeschichten, aber keine richtige Erzählung.

(Foto: Netflix)

Der Boxer-Dokumentarfilm "Counterpunch" ist dicht dran an den Sportlern. Drei Protagonisten hat sich der Regisseur Jay Bulger ausgesucht, er begleitet sie über zwei Jahre.

Von David Pfeifer

In einem besseren Moment des Dokumentarfilms "Counterpunch" sieht man den freundlichen, klugen und sehr hart zuschlagenden Boxer Cam F. Awesome, wie er vor einem wichtigen Kampf in die Kamera spricht: "Ich kenne meinen Gegner nicht, ich habe den Typen nie gesehen. Ich bin sicher, er ist ein guter Kerl. Ich gehe jetzt mal los und zerschmettere seine Träume." Awesome lacht, wirft seine Sporttasche über die Schulter und verlässt sein Hotelzimmer. Die Kamera bleibt dran.

Überhaupt ist die Kamera die ganze Zeit dicht dran an den Boxern. Drei Protagonisten hat sich der Regisseur Jay Bulger ausgesucht, er begleitet sie über zwei Jahre. Er filmt sie bei "Golden Gloves"-Turnieren, den wichtigsten Amateur-Wettbewerben in den USA, bei ersten Profi-Kämpfen, bei Titelverteidigungen. Er hat ein paar legendäre Ex-Weltmeister vor die Kamera bekommen, Bernard Hopkins, Óscar de la Hoya und Sugar Ray Leonard. Der Film beginnt damit, dass der Regisseur sich selbst zeigt, alte Videoaufnahmen eines Amateur-Kampfes, den er als Jugendlicher gemacht hat. Er erklärt, warum das klassische Boxen seiner Meinung nach die Meisterdisziplin aller Kampfsportarten ist, wieso die jungen Leute in den USA sich dieser Disziplin nicht mehr zuwenden (weil beim Basketball, Football oder Baseball mehr Geld mit weniger Schmerzen verdient wird) und erregt sich über den Amateur-Weltverband AIBA, der die Lage der Boxer nur verschlimmert.

Wenn man sich sehr fürs Boxen interessiert, ist das eine Weile spannend. Man merkt, dass der Regisseur sich auskennt, dass seine Helden ihn ernst nehmen, sie öffnen sich dem Interviewer. Ob es nun der große Ex-Weltmeister Hopkins ist oder die Mutter eines Boxers, die in die Kamera erzählt, dass ihr Sohn sich deswegen so gut vor Schlägen wegducken kann, weil er schon früh ihren Ohrfeigen ausweichen musste. Doch nach einem recht spannenden Auftakt verstrickt sich Bulger, der auch Autor und Produzent des Films ist, in einer Vielzahl von Anekdoten, sodass keine durchgängige Erzählung daraus wird. Er hat ein Thema, aber keine Geschichte. Zuerst geht es um das letzte kostenlose Gym in ganz New York, das Jugendliche von der Straße wegholt (durchaus spannend), dann geht es um fiese Promoter (auch spannend) und schließlich um einen außergewöhnlich ehrenhaften Boxer, der Amateur bleibt, weil er den Gewalt-Kommerz ablehnt (ein weiteres, völlig anderes, spannendes Thema).

Bulger war mal Autor für den US-Rolling Stone, und wenn ein guter Reporter die richtigen Bilder findet, passende Protagonisten hat und sich trotzdem völlig verfranst, gibt man ihm seine Geschichte üblicherweise mit der Anmerkung zurück: "Überleg' dir, was du wirklich erzählen willst". Eventuell schiebt man noch den Billy-Wilder-Lehrsatz "Kill your darlings" hinterher, wenn man erkennt, dass der Reporter sich nicht von schönen Szenen verabschieden will, die leider gar nicht zu seiner Geschichte passen wollen. Hier erkennt man den Nachteil des derzeitigen Amazon- und Netflix-Produktionsbooms gerade im Dokumentarfilmbereich: Es treffen zwar gute Ideen auf viel Geld - aber nicht immer auf die richtige Betreuung. Es gibt den Willen, durch ungewöhnliches Programm zu wachsen, aber nicht die Expertise, die vielen kleinen Produktionen auch strukturell im Blick zu behalten. Zuletzt war das so bei der dreiteiligen Doku-Serie "Five Came Back" über Hollywood-Regisseure im Zweiten Weltkrieg, die auch gut in einen einzigen Film gepasst hätte. Oder bei der Reihe "Abstrakt", in der interessante Kreative vorgestellt wurden, aber zwischendurch auch solche, die ihren Bereich nicht unbedingt repräsentieren.

Dabei kann Jay Bulger gute Geschichten erzählen. Vor drei Jahren brachte der 34-Jährige "Beware of Mr. Baker" in die Kinos, ein kluges und ausgewogenes Porträt des genialen wie charakterlich fragwürdigen Cream-Schlagzeugers Ginger Baker. Doch auch der beste Erzähler kann ohne Korrektiv die Linie verlieren. Als ehemaliger Boxer hätte Bulger es wissen müssen: Jeder Kämpfer braucht einen Sparringspartner - nicht um seine Stärken zu demonstrieren, sondern um die eigenen Schwächen zu erkennen.

Counterpunch ist bei Netflix abrufbar.

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