Maxim-Gorki-Theater Berlin:Das gute Leben

Maxim-Gorki-Theater Berlin: Wallende Locken, aufgekratzt und dazu deutsch-englisch-hebräischer Sprachmix: Die Vollkaracho-Schauspielerin Orit Nahmia.

Wallende Locken, aufgekratzt und dazu deutsch-englisch-hebräischer Sprachmix: Die Vollkaracho-Schauspielerin Orit Nahmia.

(Foto: Esra Rotthoff)

In diesem Anti-Pathos-Stil sind Neuköllner WG-Alltag und Nahostkonflikt gleich wichtig: Yael Ronen inszeniert "The Situation".

Von Peter Laudenbach

Kleine Provokation zum Einstieg: Völkermord ist "eine ganz schlechte Idee", findet die aufgekratzte Frau mit den wallenden Locken und dem deutsch-englisch-hebräischen Sprachmix. "Es funktioniert, aber man sollte es nicht wieder machen." Dass die israelisch-deutsche Vollkaracho-Schauspielerin Orit Nahmias so entspannt Vor- und Nachteile des Völkermords gegeneinander abwägt, muss daran liegen, dass sie auf der Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters gerade an einem Integrationskurs teilnimmt: "Deutschland in 90 Minuten". Da ist die taktlose Frage, wie sie als Jüdin zum Holocaust steht, offenbar unvermeidlich. Wir sind in Yael Ronens neuer Inszenierung "The Situation". Die Regisseurin Ronen hat sich darauf spezialisiert, kulturelle, nationale und sexuelle Klischees so rasant aufeinander krachen zu lassen, dass sie sich in die pure Absurdität auflösen. Oder als hilflose Orientierungsversuche in einer absurden Situation kenntlich werden.

Im Antipathos-Stil der Regisseurin sind Neuköllner WG-Alltag und Nahostkonflikt gleich wichtig

Dass das über Typen-Comedy hinausgeht, liegt daran, dass man nie ganz sicher sein kann, wie autobiografisch "echt" die Statements der sechs Performer sind. Zum Beispiel die Berichte des aus Syrien geflohenen Filmemachers Ayham Majid Agha, der völlig sachlich vom Überleben in Deir Ez-Zor erzählt, einer Stadt im Osten Syriens, die nacheinander von den Truppen des Assad-Regimes, von Al-Quadia und vom IS belagert wurde. Agha filmt die Detonationen und Massaker, er stellt die Filme auf youtube: "Ich hatte das Gefühl, der einzige Zeuge zu sein, der die Zerstörung dokumentiert." Als er sich die Filme später im Exil ansieht, erschrickt er vor dem, was er erlebt hat: "Ich erkannte den Menschen nicht, zu dem ich geworden war." Selbstverständlich gehört zum Spiel die ironische Brechung, wenn sich Agha einen Spaß daraus macht, den bemühten, etwas naiven Gastgeber Stefan (Dimitrij Schaad) stellvertretend für das deutsche Publikum mit den Komplikationen des Lebens im Bürgerkrieg zu erschrecken: "Natürlich habe ich Beziehungen zum IS." Als Schaad hinreichend geschockt aus der Wäsche schaut, gönnt sich Agha ein Lächeln: "Ein Witz."

Im Antipathos-Stil Ronens sind Neuköllner WG-Alltag und syrischer Bürgerkrieg, Ehekrach und Nahostkonflikt gleich wichtig - und ähnlich konfliktträchtig. Wenn die jüdische Israelin Orit Nahmias und der palästinensische Israeli Yousef Sweid auf der Bühne von ihrer gescheiterten Ehe erzählen und ihre Kräche mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern kurzschließen, entsteht eine hübsch verquere Kombination aus Beziehungs-Boulevard und Polit-Dokumentartheater.

Ronens Inszenierung zeigt, wie die sechs Darsteller aus Israel, Palästina, Syrien und Deutschland von "der Situation" und deren Folgen für ihr Leben überfordert sind - wie auch nicht. Und wie sie trotzdem um ein gutes Leben kämpfen. Das ist bewegend, wenn Dimitri Schaad erzählt, wie er mit seiner Familie als Achtjähriger aus Kasachstan nach Deutschland kam und, weil er keine Freunde hatte, im Aufnahmelager viele Stunden vor dem Fernseher verbrachte. So lernte er deutsch. Maryam Abu Khaled, eine schwarze palästinensische Schauspielerin, die im Flüchtlingslager Dschenin mit der Schauspielerei angefangen hat, will nicht darauf reduziert werden, qua biografischer Kompetenz schauspielerisch den Nahost-Konflikt durchzudeklinieren. "Ich will zeigen, dass wir in diesem Leben mehr Möglichkeiten haben", sagt Maryam Abu Khaled. In einem anderen Rahmen wäre das kitschiges Pathos. Hier ist es eine klare Ansage.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: