Marc Sinan:Den Kompass ausrichten

Marc Sinan: In seinen Musiktheaterprojekten "Dede Korkut", "Hasretim" und "Komitas" thematisierte der deutsch-türkisch-armenische Komponist Marc Sinan den Völkermord an den Armeniern - zum Missfallen der türkischen Regierung.

In seinen Musiktheaterprojekten "Dede Korkut", "Hasretim" und "Komitas" thematisierte der deutsch-türkisch-armenische Komponist Marc Sinan den Völkermord an den Armeniern - zum Missfallen der türkischen Regierung.

(Foto: Helmut Mauró)

Der deutsch-türkische Musiker mit armenischen Wurzeln möchte bei einem Konzert kommenden Samstag eine Freundschaftsgesellschaft gründen, die zur Versöhnung zwischen Armeniern und Türken beitragen soll.

Interview von Helmut Mauró

Marc Sinan, deutsch-türkischer Musiker mit armenischen Wurzeln, entwirft seit Jahren Musiktheaterprojekte, deren musikalischer Horizont von der Türkei bis Kasachstan reicht. Sein schwierigstes Thema: der Völkermord an den Armeniern. Am kommenden Samstag will er im Berliner "Radialsystem" bei einem Konzert eine deutsch-türkisch-armenische Freundschaftsgesellschaft gründen. Warum diese dringend nötig ist und was sie gerade jetzt zur Versöhnung zwischen Armeniern und Türken beitragen kann, erklärt er im Interview.

SZ: Welchen Zweck hat der Verein konkret, außer dass sich Gleichgesinnte zusammenfinden?

Sinan: Es geht um die Gestaltung einer gerechten Zukunft, und die ist nur möglich, wenn wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen und kollektive Traumata bewältigen. In der Türkei fallen heute die Kurden und andere Minderheiten, LGBT und Oppositionelle aller Couleur den gleichen Mechanismen zum Opfer wie 1915 die Armenier. Nämlich Willkür, Terrorismusverdacht, Entmenschlichung, Verhaftung, Vertreibung und in letzter Konsequenz die Vernichtung. Eine Mehrheit unterstützt das Regime dabei, weil sie geeint ist im unreflektierten Nationalismus, der auf dem Boden der Geschichtsvergessenheit sprießt. Hätte sich die Türkei ihrer historischen Schuld gestellt und diese aufgearbeitet, wäre das schlicht unmöglich.

Die überlebenden Armenier versuchen seit hundert Jahren zu beweisen, dass ihr Volk ermordet wurde, und die Kurden, dass sie noch leben.

In der Tat warten die Armenier bislang vergeblich auf die Anerkennung des Völkermords und des damit verbundenen Traumas. In Europa erleben wir gerade das Ende der Nachkriegszeit, die letzten Zeitzeugen sterben, und schon verändert sich das Verhältnis zu Krieg und Gewalt, und Nationalismus macht sich breit. Wir müssen erkennen: Jede Generation muss sich von Neuem mit der Geschichte auseinandersetzen, um den ethischen Kompass auszurichten. Die Bewältigung endet nie, sondern kann nur ein fortwährender Prozess sein gegen das Vergessen und für die Gestaltung einer gewaltfreien, humanistischeren Zukunft. Wie, wenn nicht über die Erzählungen und Romane, die Kunst und die Musik sollte eine Gesellschaft in der Lage sein, die Herzen und Seelen zu bilden?

Was kann man mit einem solchen Verein mehr leisten als mit einer Gruppe von Einzelkämpfern?

Die Arbeit wird auf viele Schultern verteilt, und wir treten als Gemeinschaft hervor. Wir wollen auch, dass Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung und politischer Orientierung auf gemeinsamem Boden zusammenfinden. Nur als Gruppe sind wir in der Lage, noch Aufmerksamkeit zu gewinnen, wenn das Thema im medialen Kontext aus der Mode kommt. Ein Einzelner hat da überhaupt keine Chance.

Warum kam dann die Idee erst jetzt, einen solchen Verein gründen?

Letzten November sollte die Gründung der Freundschaftsgesellschaft im Rahmen eines Konzertes in Istanbul stattfinden. Das Auswärtige Amt hatte damals die Veranstaltung abgesagt, um die türkische Regierung nicht zu verärgern. Insbesondere in Bezug auf die Türkei haben wir jetzt die Möglichkeit und die Verpflichtung, als Gruppe historische Wahrheit zu benennen und Kontroversen auszusprechen, wie es dort kaum jemand mehr wagt, weil es tödlich sein kann.

Wer genau wird in der deutsch-türkisch-armenischen Freundschaftsgesellschaft zusammen finden? Sind darunter auch in der Türkei lebende Mitstreiter?

Zu unseren prominenten Unterstützern zählen die Politiker Dietmar Bartsch und Cem Özdemir, die Autoren Varujan Vosganian und Dogan Akhanli, der Komponist Vache Sharafyan, der Rechtsanwalt Ilias Uyar, der Historiker Wolfgang Gust sowie zahlreiche weitere Kulturschaffende und Intellektuelle, die in der Türkei, Armenien, Europa, USA und Australien leben.

Wird es die künstlerischen Projekte in diesem Zusammenhang künftig nicht in den Geruch von Propaganda bringen?

Meine künstlerische Arbeit wird den Genozid an den Armeniern immer wieder streifen, weil er Teil meiner Familiengeschichte ist. Tatsächlich beschäftigen mich inhaltlich zur Zeit ganz anderen Themen, beispielsweise die Verschmelzung von Realität und Virtualität. Es geht aber auch nicht um meine eigene Arbeit, sondern um die Ermöglichung der Begegnung von Künstlern, die sich gar nicht konkret mit dem Genozid beschäftigen müssen, sondern mit den großen Fragen nach dem Menschsein auf der Basis der Hypothese: Zukunft geht nur auf dem diskursiven Fundament der Vergangenheit. Es gibt dazu ein großes Ballett von Terterjan, das nie aufgeführt wurde; türkische Künstler stehen praktisch unter Berufsverbot. Das sind Mammut-Aufgaben, zu denen unsere kleine Initiative einen Beitrag leisten möchte. Da beschäftigt mich nicht, ob das eine Öffentlichkeit cool findet oder nicht.

Sind nun wieder staatliche Zuschüsse gefährdet, weil die Türkei sagen kann, die Musikprojekte seien nur ein Vorwand für politische Agitation?

Wenn wir an politischer Agitation interessiert wären, würden mir wirksamere und einfachere Wege einfallen, als neue, hochkomplexe künstlerische Arbeiten zu entwickeln. Es gibt eine Handvoll Stiftungen, die daran interessiert und wirtschaftlich in der Lage sind, diese Art von Projekten zu unterstützen. Kontroverse Themen haben da noch geringere Chancen, wenn die Jurys nicht absolut überzeugt sind von der künstlerischen Qualität. Im übrigen glaube ich nicht, dass sich die politische Türkei um uns schert. In der Gruppe leben wir den armenisch-türkisch-deutschen Dialog, der sonst nicht stattfindet. Das kann vielleicht einen Vorbildcharakter haben.

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