Mann und Proust:Masken der Leidenschaft

Thomas Mann maß sich nicht nur an Goethe und Wagner, sondern auch an Marcel Proust. "Er ist von einer phantastischen Müßigkeit, die mich verblüfft und anzieht", schrieb er über den Schriftstellerkollegen.

Von Michael Maar

Lange Zeit ist er trist schlafen gegangen. Thomas Mann hatte in der Entstehungszeit des Josephromans immer wieder Phasen starker Selbstzweifel. Als er im Juni 1933, bereits im Schweizer Exil, den zweiten Band für den Druck vorbereitet, ist er alles andere als glücklich. Mit schwerer Sorge stellt er fest, dass ihm die erste Hälfte als beängstigend problematisch und episch unnütz auf Nerven und Gewissen fällt: "Es ist sehr schlimm". Im Krisenmodus, in dem er in diesem Jahr ist, hadert er sogar mit dem ersten Band. Im Tagebuch klagt er über das "Teigig-Sitzengebliebene" und das "Mehlige im Kuchen". Sein Roman, resümiert er am Erscheinungstag des jungen Joseph, sei in jedem Sinne ein Spätwerk, "schon verspätet, luxurios und künstlich wirkend, Alexandrinismus und wird das wahrscheinlich noch ausgeprägter vermöge des Bewußtseins von sich selbst. Man ist zu jeder geschichtlichen Einsicht bereit."

Das klingt alles andere als selbstgewiss. Zwei Jahre später, er schreibt an "Joseph in Ägypten", wirkt dann wieder einmal die alte Medizin, das Vitamin Praise, die abendliche Lesung im Familienkreis. Im August 1935 notiert Thomas Mann nach der erfolgreichen Lesung des Gatten-Kapitels im Tagebuch: "Das Außerordentliche und Großartige des Werkes stark empfunden, das mich auch anhält, mich lesend dabei nur mit Großem (Faust, Proust) zu beschäftigen." Das SichMessen an Proust, vermerkt der hochgelehrte, wenn auch von Wiederholungen nicht ganz freie Kommentar, bleibe Thomas Mann auch in der Folgezeit überaus wichtig.

Er hat ihn spät entdeckt, aber dann war es Liebe auf den ersten Blick. Vor allem Prousts Psychologie der Eifersucht und der Leidenschaft ist es, die ihn anzieht und die er sich produktiv zunutze macht. Die Passion Mut-em-enets, der Frau des Potiphar, der sich Joseph als Mondnonne standhaft verweigert, worüber Mut-em-enet zur Mänade wird, dieses eigentliche Herzstück der Tetralogie ist darum nicht zufällig "psychologisch leicht von Proust beeinflußt"; von Proust, der ihn nun auf einmal fessele, wie Thomas Mann 1935 an René Schickele schreibt (und wie es dem Sohn Klaus schon zuvor aufgefallen war). "Er ist von einer phantastischen Müßigkeit, die mich verblüfft und anzieht." Kein Wunder, wenn man an die fantastische Müßigkeit, um nicht zu sagen Teigigkeit der Joseph-Romane denkt, die Thomas Mann noch zwei Jahre zuvor in schwerste Sorge stürzt.

Hier konnte er seine eigene aussichtslose Leidenschaft fürs Jungmännliche schildern

Was Thomas Mann zwar nicht erwähnt, was Klaus aber so wenig wie seinem Vater entging, ist der markanteste und sensibelste Berührungspunkt der beiden epischen Großwerke: die Verwirrung der Gefühle, die Geschlechtsvertauschung, das Androgyne. Mut-em-enets zerstörerische Leidenschaft, die über sie einbricht wie die Tadzio-Passion über Gustav von Aschenbach, ist darum das Herzstück des Romans (wie der Kommentar richtig bemerkt), weil Thomas Mann mit ihr seine eigene aussichtslose Leidenschaft fürs Jungmännliche schildern kann. Er greift darum für das Mut-Kapitel auf frühere Aufzeichnungen über seine homoerotische Beziehung zu Paul Ehrenberg zurück, der großen Liebe seiner Jugend.

Und nun bei Proust? So wenig wie sein Sohn konnte Thomas Mann in der "Suche nach der verlorenen Zeit" übersehen, dass es mit den Begierden und Geschlechtsvertauschungen dort ganz ähnlich bestellt war. Der Baron de Charlus war eine sich durch ihre Stimme verratende in einem Männerkörper gefangene Frau. Albertine, die Geliebte des Erzählers, war ein nur schwach camouflierter Albert. Die jeunes filles en fleurs hatten Glück, wenn sie noch nicht im Stimmbruch waren. Die Schleier der Camouflage waren durchsichtig genug, und wie oft nicht verhedderte sich Proust in ihnen.

Auch Thomas Mann spielte im Frühwerk mit solchen Schleiern der Camouflage. In der Novelle "Tod in Venedig" zieht er sie mit einem Ruck weg. Aschenbach verfällt dem schönen Epheben, nicht einem Mädchen mit zu stämmigem Nacken. Manns Joseph wiederum, als Hermes, Mittler und Mondfigur, ist androgyn. Er löst Leidenschaft aus, aber unterliegt ihr nicht. Joseph bleibt keusch, Joseph sublimiert. Über der Hochzeitsnacht, die er doch irgendwann halten muss, fällt der Vorhang erzählerischer Verlegenheit.

Den Segen freilich bekommt nicht er. Jaakobs Segen geht nicht an den einst so geliebten Joseph. Er geht an den von der Ischtar stark geplagten Juda. Joseph, das göttliche Schlitzohr, ist der Herrscher im Reich der Sublimation, der Kunst, der höheren Heiterkeit. Der Roman über ihn, Thomas Manns opus maximum, wird trotz aller Selbstzweifel seines Verfassers, gedüngt durch diese grandiose neue Ausgabe, wie Prousts Recherche weiter und immer weiter wachsen - dans le Temps.

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