Mafia in Deutschland:Von wegen stilles Kämmerlein

Nur ein schlechter Traum? Neue italienische Bücher beschreiben, wie 'Ndrangheta, Cosa Nostra und Camorra mit ihren Geschäften Deutschland und die Welt kolonisierten.

Henning Klüver

Die Mafiosi sind längst überall. Die Ursino in Hannover, die Morabito in Köln, die Mazzaferro in Stuttgart, die Muto in Nürnberg. Am stärksten konnten sich die Clans aus der kalabresischen Mafia-Hochburg San Luca verbreiten: die Nirta, Strangio, Pelle, Romeo und Co haben in Berlin und in München, in Leipzig und in Düsseldorf, in Dresden und in Tübingen Fuß gefasst.

Mafia in Deutschland: Mafialand Deutschland - auf einer Karte in Francesco Forgiones Buch "Mafia Export".

Mafialand Deutschland - auf einer Karte in Francesco Forgiones Buch "Mafia Export".

(Foto: Foto: Verlag Baldini Castoldi Dalai)

Und natürlich im Ruhrgebiet, zum Beispiel in Duisburg, wo im August 2007 sechs Angehörige des Clans Pelle-Vottari von Killern der verfeindeten Familie Nirta-Strangio vor der Pizzeria "Da Bruno" erschossen wurden. Das warf ein Schlaglicht auf einen kleinen Ausschnitt der Mafia-Szene in Deutschland und wurde doch bald wieder vergessen - zumal im vergangenen Jahr Giovanni Strangio, der Kopf hinter dem Mordanschlag von Duisburg, in Amsterdam festgenommen werden konnte. Mafia in Deutschland - nur ein schlechter Traum?

Doch der Spuk hat vermutlich gerade erst angefangen - das belegen eindrucksvoll die Karten, die Francesco Forgione in seinem Buch "Mafia Export" vorlegt, das gerade bei Baldini Castoldi Dalai Editore in Mailand erschien - eine Geographie des organisierten Verbrechens. Auch die Bundesrepublik ist, neben vielen anderen Staaten, von Mafia-Niederlassungen übersät. Vor allem von der 'Ndrangheta, der kalabresischen Mafia, die eher zu den Stillen im kriminellen Lager gehört und nur gelegentlich durch blutige Fehden von sich reden macht. Während die sizilianische Cosa Nostra Mitte der neunziger Jahre mit spektakulären Bombenattentaten noch die direkte Konfrontation mit dem Staat gesucht hatte und die neapolitanische Camorra zuletzt 2005 in einen monatelangen Bandenkrieg verstrickt war, konzentriert sich die 'Ndrangheta seit Jahrzehnten ganz auf ihr Kerngeschäft - den weltweiten Drogenhandel, zuerst mit Heroin und jetzt mit Kokain.

Der arme Bruder kassiert ab

Außerdem investiert man in Immobilien, kauft Pizzerien und Restaurants und verdient am Handel mit Waffen oder Giftmüll. Wirtschaftseinrichtungen wie das römische Institut Eurispes schätzen das Geschäftsvolumen der drei größten italienischen Mafiaorganisationen auf über 140 Milliarden Euro jährlich (mit einem Gewinn zwischen 60 und 70 Milliarden). Das entspricht einem Bruttoinlandsprodukt von Staaten wie Dänemark oder Portugal. Wobei die 'Ndrangheta, die in den siebziger Jahren noch als "armer Bruder" von Cosa Nostra und Camorra galt und sich durch Menschenraub und Lösegelderpressungen überhaupt das nötige Startkapital beschaffen musste, inzwischen alle anderen Organisationen in den Schatten stellt.

Die 'Ndrangheta hat ihre Fühler auch weit in legale Wirtschaftsbereiche ausgestreckt, sie investiert im Baugeschäft, kontrolliert Import-Export-Firmen oder wäscht die ungeheuren Gewinne aus dem Drogengeschäft über seriöse Bankverbindungen sauber. Dabei kann sie sich - wie die anderen Mafiaorganisationen in Italien auch - in ihrer Heimatregion einerseits auf ein Heer von Zuträgern aus den sozial schwachen Schichten und anderseits auf die Mithilfe von Steuerberatern, Rechtsanwälten, Bankangestellten und Politikern stützen. Vor allem die Freiberufler bilden eine Grauzone zwischen legaler und illegaler Gesellschaft, die immer größer wird.

Allein in Kalabrien schätzt die DIA, die zentrale italienische Ermittlungsbehörde gegen die Mafia, seien 27 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter auf irgendeine Art in die "mafiöse Industrie" verwickelt. In ganz Süditalien sollen es zehn Prozent sein. "Mafia pulita", die "saubere Mafia" wird sie in einer Untersuchung genannt, die Antonio Laudati, Richter am Kassationshof in Rom, und der Publizist Elio Veltri veröffentlicht haben (Longanesi). Die saubere Mafia, so die Autoren, tötet nicht mehr, sie kauft. Und aus der süditalienischen Besonderheit wird die "Mafia globale", wie das zentrale Kapitel des Buches überschrieben wird.

Vor langem schon haben die Organisationen die Grenzen ihrer Kernregionen übersprungen. Inzwischen ist Mailand die Drogenhauptstadt Italiens geworden (mit einem Verbrauch von bis zu 15000 Dosen Kokain täglich). Und es gibt in der lombardischen Metropole kaum eine Baustelle, an der nicht Unternehmen des organisierten Verbrechens bei Schachtarbeiten und Erdbewegungen mitverdienen - bis zu Großprojekten wie dem Ausbau der Autobahn Mailand-Turin oder die Terrassierung von Hochgeschwindigkeitsstrecken der Eisenbahnen.

Lesen Sie auf Seite 2, was die Pizza, ein typisch neapolitanisches Gericht , eigentlich mit Kalabrien zu tun hat.

Drogenlager in der Pizzeria

Dabei ist Norditalien nur eine Station auf dem Weg in die legalen wie illegalen Märkte aller Kontinente. Die Clans haben auch in Australien, Canada, den USA, Südamerika Fuß gefasst. Die organisierte Kriminalität, heißt es in "Mafia pulita", verletze nicht nur die Gesetze, sie stelle weltweit eigene auf. Sie habe "die Welt kolonisiert", so der Untertitel von "Mafia Export". Wenn heute ein Boss in Caracas, Toronto, Nizza oder Amsterdam festgenommen wird, bedeute das nicht, dass er vor der italienischen Justiz fliehen wollte. Die Wahrheit sei, schreibt Francesco Forgione, dass diese Orte "wichtige Marktplätze der Kriminalität" geworden sind, die von der Mafia kontrolliert werden. So ging es in Duisburg beim Blutbad vor der Pizzeria "Da Bruno" nur vordergründig um eine Familienfehde. Es ging auch um die Kontrolle der Drogenwege von Übersee via Niederlande und Deutschland nach Italien.

Obgleich die Pizza, ein typisch neapolitanisches Gericht , eigentlich der kalabresischen Küche fremd ist, haben die Familien aus San Luca, Africo oder Gioiosa Jonica ein Netz von Pizzerien als Stützpunkte im Ausland geknüpft. Allein in Nordrhein-Westfalen sollen 30 Restaurants von der 'Ndrangheta, aber auch von der Cosa Nostra und der Camorra (oft mittels Strohmännern) kontrolliert werden.

Wie in "Da Bruno" finden hier ausschließlich Personen Arbeit, die durch verwandtschaftliche Beziehungen an den jeweiligen Clan gebunden sind. Die Lokale werden vielfach genutzt - als Schlupfwinkel für untergetauchte Mitglieder, als Zwischenlager für Drogen und Waffen, zur Geldwäsche und schließlich als Basis für andere "geschäftliche" Handlungen der Familie. Die Aktion der Strangio gegen die Pelle ging von der Pizzeria "San Michele" in Kaarst auf der anderen Rheinseite aus, die der Clan dann, bevor er sich nach Holland absetzte, fluchtartig aufgab.

San Michele gilt als der Schutzheilige der kalabresischen Mafia. Eine Statue des Erzengels stand am Eingang von "Da Bruno", und das Hinterzimmer war mit Bildern der Madonna di Polsi geschmückt. An diesem Marienheiligtum bei San Luca treffen sich jedes Jahr im September Abgesandte der wichtigsten kalabresischen Clans. In der Tasche des in Duisburg erschossenen Tommaso Venturi, der am Abend des Blutbades seinen 18. Geburtstag gefeiert hatte, fanden die Ermittler ein angekohltes Heiligenbild. Der junge Mann war, kurz bevor er starb, mit traditionellen Riten im Hinterzimmer von "Da Bruno" als Mitglied in die Organisation aufgenommen worden.

Eine kulturelle Nabelschnur bindet die Familien im Ausland an ihre Heimat. Einerseits versuchen die "Ausgewanderten" sich im neuen Land zu integrieren, möglichst nicht aufzufallen und als normale Geschäftspartner aufzutreten. Andererseits dienen traditionelle Riten (etwa bei der Aufnahme neuer Mitglieder) dazu, Identität herzustellen. Forgione erzählt, wie Frauen von San Luca aus Kalabrien aufbrechen und auf einem Zickzack-Weg durch Europa nach Amsterdam reisen, wo ihre Verwandten untergetaucht sind.

Im Gepäck haben sie eine schwere Tasche. Als diese Tasche von der niederländischen Polizei, in der Annahme, sie sei vollgestopft mit Drogen, konfisziert wird, tauchen Pasta-Packungen, kalabresischer Käse, Würste auf - und ein Laptop mit einer abhörsicheren Skype-Verbindung. Das Zusammengehörigkeitsgefühl und diese Symbiose von Archaischem und Modernem machen im Ausland vielleicht den "kulturellen Vorsprung" der 'Ndrangheta gegenüber der Cosa Nostra und der Camorra aus.

Der Autor Francesco Forgione stammt aus Kalabrien, war aber viele Jahre Fraktionssprecher der Linkspartei Rifondazione Comunista im Regionalrat Siziliens. Heute lehrt er an der Universität L'Aquila (Abruzzen) Soziologie der organisierten Kriminalität. Er weiß wovon er spricht: Unter Prodis Regierung stand er von 2006 bis 2008 der Antimafia-Kommission des italienischen Parlaments vor. Im Gespräch warnt der 50-Jährige vor der Unterschätzung des Phänomens Mafia gerade durch die deutsche Öffentlichkeit.

Auch in der Bundesrepublik habe sich eine Grauzone gebildet, in der deutsche Baufirmen etwa mit Camorra-Unternehmen zusammenarbeiteten oder Freiberufler Mitglieder der 'Ndrangheta unterstützten. Forgione fordert eine europaweite Antimafia-Gesetzgebung nach dem Vorbild Italiens, wo bereits die Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Vereinigung als Straftat gilt. In Deutschland dagegen kann die Polizei erst eingreifen, wenn einer Person eine kriminelle Handlung nachgewiesen werden kann. Dem BKA lagen auch in Duisburg konkrete Hinweise auf die mafiösen Verstrickungen der Nirta-Strangio sowie der Pelle-Vottari-Romeo vor. Mit einer anderen Gesetzgebung, zu der auch die Enteignung von Mafia-Besitz gehört, hätte vielleicht das Blutbad von "Da Bruno" verhindert werden können.

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