Macht der Piktogramme:Die Zeichen der Zeit

Ist es ein Leit- oder ein Leidsystem? Wie Piktogramme als Chiffren der Globalisierung die Welt erobern.

Oliver Herwig

Sie kleben überall. In Abflughallen, Bahnhöfen oder Businesslounges haben Piktogramme das Sagen. Beziehungsweise: das Zeigen. Strichmännchen und Rockfrauen weisen den Weg zur Toilette, durchgestrichene Zigaretten markieren Nichtraucherzonen. Zuletzt hat etwa die Fußball-Weltmeisterschaft zu einem regelrechten Boom der Symbole geführt. Deutschland gibt sich international. Alles muss sofort für alle verständlich sein. Mehrsprachige Hinweise reichen nicht mehr. Piktogramme sind die Verkehrszeichen der Globalisierung.

Nun stecken wir mitten im Schilderwald. Manche Skeptiker vermuten hinter den wuchernden Zeichen und Chiffren sogar einen Anschlag auf unsere Schriftkultur. Die Piktogramme scheinen das Zeitalter der Leseschwäche zu illustrieren. Die Kritik ist jedoch irreführend - und obendrein nicht mal neu.

Als "Minimalschrift für Analphabeten des hektischen Zeitalters" spotteten Kritiker bereits über Otl Aichers Sportzeichen der Olympiade in München. Das war 1972. Sechs Jahre hatte damals der Doyen des deutschen Grafik-Designs an den Figuren gefeilt. An Sprintern, die im 45-Grad-Winkel losstürmen und Fußballern, die einen Ball als Kopf tragen.

Spätestens in München wurde klar, dass Piktogramme umso besser funktionieren, je weniger sie darstellen. Ihr Wesen ist die Auslassung. Solch extreme Stilisierung muss man lesen lernen. Vielleicht hat Aicher die Köpfe seiner Figuren deshalb so prominent dargestellt. Die weiße Kugel balanciert oft derart halsbrecherisch auf dem Rumpf, dass es scheint, als hebe der Sportler nur die Arme, um seinen Kugelkopf festzuhalten.

Otl Aicher perfektionierte einen Code, den der Japaner Masaru Katsumie 1964 als Bildzeichensystem der Sportarten entwickelt hatte. Wenige Balken und Striche genügten für die Chiffren der Olympiade: Armgelenke waren im 90-Grad-Winkel abgeknickt, man konzentrierte sich auf die Oberkörper, Taillen wurden durch Auslassung markiert. Dazu gab es einheitliche Strichstärken und Größen, wie es die Ulmer Hochschule für Gestaltung propagierte. "Genau, dicht, sicher, nicht weiter zu reduzieren, letztmöglich, definitiv", rühmte Bernhard Rübenach dieses Design. Entsprechend steril fielen die Zeichen aus. Elegant waren die Sportler selbst, die Hinweisschilder mussten nur eines sein: unverkennbar und eindeutig lesbar.

Die Zeichen der Zeit

Oben, unten, irgendwo

Die Gutenberg-Galaxis fürchtet seither die Konkurrenz des visuellen Steno. Sind die Dinger wirklich so eindeutig, wie sie vorgeben? Selbst ein banaler Richtungspfeil kann Verwirrung stiften. Zum Beispiel am Salzburger Bahnhof. Wer hier den Intercity Richtung Wien erreichen will und deshalb von Gleis 21 nach Gleis elf hechtet, kann verzweifeln. Ob der Pfeil nun nach oben, unten oder geradeaus weist, ist beim besten Willen nicht zu sagen. Leitsysteme versagen bei vertrackter Architektur und mutieren zu Leidsystemen. Der niederländische Informationsdesigner Paul Mijksenaar weiß: "Die besten Wegweiser können ein krankes Gebäude nicht heilen."

Der nach seinen Vorgaben beschilderte Amsterdamer Flughafen Schipol jedenfalls gilt als besonders benutzerfreundlich. Mit "eindeutiger Farbkodierung und klaren Piktogrammen" rückte der Gestalter dem Verwirrspiel der Terminals und Abflugplätze zu Leibe. Und zwar mit System. Liegen etwa Toiletten auf einer anderen Ebene, kombinierte Mijksenaar den Richtungspfeil mit einem Piktogramm für Treppe oder Rolltreppe.

Präzision ist der Schlüssel zu visueller Information, nicht selten aber entscheidet der Kontext, ob sie funktioniert. Fontshop, Alphabet-Baukasten für Grafik-Designer und Schriftsetzer, bewirbt seine Piktogramme deshalb zurückhaltend: "Sie können komplizierte Botschaften einfach darstellen." Um verstanden zu werden, müssten sie freilich eine eindeutige visuelle Sprache sprechen, innerhalb eines Systems mit der gleichen Syntax arbeiten und formal aus einem Guss bestehen.

Das ist Originalton Spiekermann, der vor Jahren schimpfte: "Man kann diese Zeichensprache als krude Verkürzung komplexer Inhalte sehen." Typograph Erik Spiekermann stellt klar: "Symbolhafte Abbildungen vertragen sich nicht mit detaillierten technischen Darstellungen. Locker gezeichnete Piktogramme in räumlicher Anordnung sprechen eine andere Sprache als stark vereinfachte Symbole." Wer daraufhin die Vielzahl der Gefahrenschilder durchsieht, muss sich mit Grausen abwenden.

Inzwischen gibt es jedoch ein weiteres Problem. Immer mehr Zeichen konkurrieren im öffentlichen Raum. Drei Großsysteme ringen um die Vorherrschaft: offizielle Piktogramme, Warenbotschaften und Graffiti. Leider übernehmen die offiziellen Piktogramme wie auch die Warenbotschaften immer öfter subversive Strategien der Straßenkunst. Quantität zählt, das sogenannte Bombing, mit dem Flächen einfach zugesprüht, zugeklebt und zugepflastert werden. Hauptsache auffallen. Das Resultat ist verheerend. Der typisch deutsche Schilderwald führt auf Holzwege. Viele Schilder sind lediglich schlechte Illustrationen. Sie besitzen keine Verbindlichkeit.

Die Zeichen der Zeit

Kinder verboten!

Neulich in der Münchner U-Bahn: Zwei Amerikaner wollen zum Zoo und fahren mit dem Finger über den Plan. Where is it? Die Verkehrsbetriebe haben sich eine neue Karte ihres Liniennetzes spendiert, eingearbeitet sind graue Skizzen von Touristenmagneten. Da prangen das Stadion, der Tiergarten und das Rathaus auf dem Plan, und weil trotzdem keiner weiß, was gemeint ist, steht das Ziel als Wortmarke darunter. Echte Piktogramme, stark vereinfachte Bildzeichen, müssen nicht sprachlich gedoppelt werden.

Vor allem Verbote lassen sich wunderbar darstellen. Ein Bild sagt mehr als tausend Neins - das haben Verkehrszeichen bewiesen. Aber es bedurfte immerhin fünf internationaler Konventionen zwischen 1909 und 1968, um etwas Einheitlichkeit durchzusetzen. Verkehrszeichen strahlen seither ins Grafikdesign. Die durchgestrichene Zigarette hat Karriere gemacht. Sie ist in tausend Varianten zu finden. Bastelhölzer sind nichts für Kleinkinder, also wird das Baby wie im "eingeschränkten Halteverbot" durchgestrichen. "Früher war noch Zeit zum Lesen", klagt selbst Spiekermann über neue Tafeln, heute würde man "statt des ausführlichen Verbotes ein gesichtloses Piktogramm mit einer sehr einfachen Botschaft platzieren: Kinder verboten!"

Kein Wunder, dass die Globalisierung Piktogramme liebt. Zeit ist Geld. Besonders Amerika tat sich auf dem Gebiet der Standardisierung hervor. Das 1914 gegründete AIGA (American Institute of Graphic Arts) bietet heute 50 Zeichen zum kostenlosen und gemeinfreien Download an. Die ersten 34 wurden 1974 veröffentlicht und erhielten gleich einen der ersten "Presidential Design Awards"; 16 weitere kamen 1979 hinzu. Heute zieren Kleiderhaken (Garderobe), Telefonhörer (Telefonzelle) und Scheine (Geldwechsel) ganz Amerika - bis zum letzten Diner in Idaho.

Die Zeichen wurden für die "Kreuzungen des modernen Lebens entworfen", sagt das AIGA, "für Flughäfen und andere Verkehrsdrehscheiben sowie für große internationale Veranstaltungen." Was aber ist der Sinn dieser Leitsysteme? Sie seien ein Beispiel dafür, wie "öffentlichkeitsorientierte Designer ein universelles Kommunikationsbedürfnis" angingen. Richtig. Es geht nicht um Zeichensysteme für Zugereiste und Globetrotter, es geht um Bedürfnisse. Und manchmal muss es eben sehr schnell gehen. Wo ist der Defibrilator? Das Herzzeichen springt sofort ins Auge. Gutes Grafikdesign kann Leben retten.

Piktogramme sind Teil des Alltags - und nicht das Ende der Schriftkultur. Was würden dazu wohl eine Milliarde Chinesen sagen? Dass unserer Alphabet selbst aus abstrahierten Bildzeichen besteht, ist nicht zu übersehen. Das A war in seiner ursprünglichen Form - auf dem Kopf stehend - Zeichen des Rindes. Der gehörnte Stierkopf stand für das ganze Vieh, phönizisch: Aleph. Aus dem Ideogramm wurde irgendwann ein einfacher Buchstabe.

Nun geht es andersrum. Das Rindvieh steht als Warnbild neben der Straße. Die neue Einfachheit einer globalen Gesellschaft müssen wir nicht lieben - lesen lernen aber doch.

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